Ägypten – Scharia und Menschenrechte für alle?

Die meisten Kommentatoren der vergangenen zwei Jahre waren sich einig: Die Muslimbruderschaft sei längst keine radikal islamistische Gruppe mehr, sondern habe sich zu einer moderaten, gewaltfreien und demokratischen Partei gewandelt. Was auch immer die entsprechenden Kommentatoren zu dieser Einschätzung veranlasst hatte – in erster Linie wohl Wunschdenken –, sie sollten in den letzten Wochen eines Besseren belehrt worden sein. Das Vorgehen der Muslimbruderschaft rund um den ägyptischen Verfassungsentwurf zeigt deutlich, dass die Partei von jener politischen Agenda, derentwegen sie vor knapp 100 Jahren gegründet wurde, nicht abgewichen ist. Ihr Ziel war von Anfang an ein Staat, dessen Verfassung auf Koran und Sunna aufbaut und dessen Gesetz die Scharia ist. So nah wie heute war die Bruderschaft der Macht in ihrer gesamten Geschichte nicht. Und an ihrer Entschlossenheit, diese für eine Islamisierung Ägyptens zu gebrauchen, kann nicht gezweifelt werden. Gezielt arbeiten Präsident Mohammed Mursi und die Bruderschaft auf einen grundlegenden Wandel der ägyptischen Gesellschaft hin, dessen Ergebnis – so viel steht heute schon fest – kein pluralistischer und demokratischer Staat sein würde.

Wenn die Muslimbruderschaft moderater wirkt, als die mit ihr verbündeten Salafisten, dann nur, weil ihr Islamismus zukunftsorientiert ist. Die Bruderschaft will nicht zurück ins 8. Jahrhundert; sie will einen modernen islamistischen Staat. Ihr Vorbild ist nicht das Afghanistan der Taliban, sondern eher eine sunnitische Variante des iranischen Gottesstaates. In diese Richtung weist auch der in der neuen Verfassung festgeschriebene Plan, Teile der Gesetzgebung von den religiösen Rechtsgelehrten der Al-Azhar-Universität vor Inkrafttreten auf ihre Scharia-Konformität prüfen zu lassen (Artikel 4).

In der taz vom 2.12.2012 besteht Karim El-Gawhari nach wie vor darauf, dass alles halb so schlimm und die neue Verfassung keinesfalls ein Zeichen für eine „radikale Islamisierung“ sei, denn der Scharia-Artikel stünde bereits seit 1971 in der ägyptischen Verfassung. Aber zum einen geht der vorliegende Entwurf weit über die Erwähnung „der Grundsätze der Scharia“ als Quelle der Gesetzgebung hinaus. Mit Artikel 219, der „Artikel 2 eine umfassendere Lesung [gibt], die die Umsetzung eines grösseren Teils der Scharia ermöglichen und von der Gesetzgebung erfordern würde, den Grundsätzen der sunnitischen Rechtslehre zu entsprechen“ (siehe hier) und vor allem mit Artikel 4, der den religiösen Rechtsgelehrten einen großen Einfluss auf die Gesetzgebung verleiht, wird eine Islamisierung der Gesetzgebung ausdrücklich angestrebt. Zum anderen geht der Einwurf El-Gawharis am Kern des Problems vorbei: Religiöses Recht kann grundsätzlich keine Basis für einen pluralistischen und demokratischen Staat sein, denn ein solches Recht ist exklusiv. Es schließt all jene aus, die einer anderen als der durch den Koran erlaubten „Buchreligionen“ oder keiner Religion angehören. Diese Anmaßung zeigt sich im Verfassungsentwurf bereits in Artikel 3, der die freie Ausübung der Religion nur Sunniten, Christen und Juden garantiert, nicht aber Schiiten, Bahai oder Ahmadiyya – ganz zu schweigen von nichtreligiösen Gruppen und Personen.

An diesem Befund ändert auch die geplante Volksabstimmung nichts. Eine solche Abstimmung ist unzweifelhaft ein demokratischer Vorgang, aber ein Plebiszit ist noch kein Beleg für eine moderne Demokratie. Wahlen und Abstimmungen sind nur ein Aspekt einer solchen, ein anderer, ebenso wichtiger, sind einklagbare und vor allem unveräußerliche Grundrechte des Einzelnen, die auch durch demokratische Mehrheiten nicht abgeschafft werden können. Andernfalls läuft Demokratie Gefahr, zur Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit zu werden. Auch in demokratischen Staaten birgt das Mittel der Volksabstimmung diese Gefahr, wenn wir etwa an die Abstimmung über den Minarettbau in der Schweiz denken. Hier hat eine Mehrheit in einer demokratischen Abstimmung beschlossen, dass die muslimische Minderheit keine Minarette bauen darf, womit sie gegen eine der Spielregeln einer modernen Demokratie verstoßen hat: Die Mehrheit ist nicht berechtigt, über die Menschenrechte der Minderheit (in diesem Fall die Religionsfreiheit und das darin enthaltene Recht auf Gebets- oder Kultstätten, die den eigenen Bedürfnissen entsprechen) abzustimmen. Bei einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dürften die Schweizer Muslime gute Chancen haben, das Minarettbauverbot zu Fall zu bringen.

Ähnlich steht es um die Volksabstimmung zum ägyptischen Verfassungsentwurf: Wenn die Ägypterinnen und Ägypter sich in dieser Volkabstimmung eine Verfassung geben, die nicht die Menschenrechte aller Bürgerinnen und Bürger garantiert, dann ist das Ergebnis dieser Abstimmung keine moderne Demokratie. Eine Verfassung, die die Scharia, zur „Hauptquelle der Rechtsprechung“ (Artikel 2) erklärt, garantiert keine unveräußerlichen Rechte, sondern stellt sie vielmehr unter Vorbehalt. Die einzige Einschränkung der Menschenrechte, die eine moderne Demokratie zulässt, ist durch die Rechtsgleichheit aller Bürgerinnen und Bürger gegeben: Die je gleichen Rechte aller anderen. Nach dem vorliegenden Verfassungsentwurf wäre es in Ägypten jedoch die Auslegung der Scharia durch sunnitische Rechtsgelehrte der Al-Azhar-Universität, die die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger einschränken würde. Das Islamische Recht in der Variante der Muslimbrüder stünde über der eigentlichen Verfassung und den Menschenrechten. Menschenrechte aber, die in Frage gestellt und bei Bedarf aufgehoben werden können, wenn religiöses Recht es „erfordert“, sind de facto inexistent. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990, in der jedes einzelne Menschenrecht unter Scharia-Vorbehalt gestellt wird. Zum Recht auf Leben heißt es darin etwa: „Es ist verboten, einem anderen das Leben zu nehmen, außer wenn es die Scharia verlangt.“ Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird garantiert, „außer wenn ein von der Scharia vorgeschriebener Grund vorliegt“, dieses zu verletzen und alle „haben das Recht, ihre Meinung frei auf eine Weise auszudrücken, die der Scharia nicht zuwiderläuft.“ Es ist leicht ersichtlich, welcher Spielraum zur Verletzung grundlegender Rechte des Einzelnen hier geschaffen wird. Von Rechtssicherheit und geschützter Freiheit der Menschen kann keine Rede sein.[1]

Doch zurück zum Verfassungsentwurf: Neben dem Schariavorbehalt in Artikel 2 verfolgen weitere Artikel der neuen ägyptischen Verfassung eine islamistische Agenda. In Artikel 11 heißt es etwa, der Staat solle „Ethik, Moral und öffentliche Ordnung“ sicherstellen. Was das im Einzelnen bedeutet, wird nicht erläutert. Wenn der Gesetzgeber im Verbund mit den Rechtsgelehrten der Meinung ist, eine unverschleierte Frau oder das Trinken von Alkohol seien unmoralisch und eine Störung der öffentlichen Ordnung, dann wären Kopftuchzwang und Alkoholverbot von dieser Verfassung ebenso gedeckt, wie alle anderen islamistischen Vorstellungen von der Gesellschaft. Artikel 44 wiederum verbietet die „Beleidigung von Propheten“. Ein weiterer Anstieg von Blasphemieanklagen, die bereits im vergangenen Jahr in die Höhe geschnellt sind, ist vorprogrammiert. Wie alle Gesetze, die Meinungen und Weltanschauungen unter Strafe stellen, öffnet der Vorwurf der Blasphemie dem Denunziantentum Tür und Tor.[2] In Pakistan etwa wird er gern gegenüber Christen oder anderen Andersgläubigen erhoben. Durch diesen Artikel werden die ohnehin schon eingeschränkte Religionsfreiheit (Artikel 3) und vor allem die Meinungsfreiheit (Artikel 45) sogleich wieder aus den Angeln gehoben. Auf einen Artikel, der die Gleichberechtigung der Geschlechter garantiert, hat die verfassungsgebende Versammlung in konsequent islamistischer Manier gleich ganz verzichtet.

Die geplante Verfassung der Muslimbrüder und ihrer salafistischen Verbündeten wird, so sie in Kraft tritt, Ägypten zu einem islamischen Land mit islamischem Gesetz für fundamentalistische sunnitische Muslime machen. Für alle anderen werden schwere Zeiten anbrechen, wenn sie sich dem religiösen Diktat nicht beugen. Ganz abgesehen von der Gefahr eines Bürgerkrieges oder zumindest eines auf Dauer brüchigen gesellschaftlichen Friedens. Es bleibt zu hoffen, dass Mursi, die Muslimbruderschaft und die Salafisten mit diesem Versuch am Ende doch noch scheitern werden. Ägypten wird nur dann ein Staat für alle seine Bürgerinnen und Bürger werden können, wenn er sich eine Verfassung gibt, die gleiche Rechte für alle festschreibt und sich damit zu einer Grundrechtsdemokratie erklärt. In einem solchen Staat wäre noch immer sehr viel Platz für Religion – in dem von der Muslimbruderschaft geplanten Staat hingegen wird nur noch sehr wenig Platz sein für Nicht- oder Andersgläubige. Westliche Staaten sollten Unterstützungen für Ägypten von einer tatsächlichen Demokratisierung des Landes abhängig machen. Es gibt keinen Grund, einer heraufziehenden religiösen Diktatur auch noch finanziell unter die Arme zu greifen.

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