Das antiamerikanische Ressentiment

Neben Israel existiert nur ein weiterer Staat, bei dem Regierungspolitik und Bevölkerung umstandslos in eins gesetzt werden: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Wie sich in den aktuellen Debatten um die Abhörprogramme der NSA neuerlich zeigt, kippt die durchaus berechtigte Kritik an der US-Außenpolitik oder den US-Geheimdiensten immer wieder schnell in ein Vorurteil gegen DIE Amerikaner im allgemeinen um. So schreibt etwa Jakob Augstein auf S.P.O.N.: „Die Amerikaner überwachen rund 500 Millionen deutsche Datenverbindungen im Monat, sie behandeln uns wie einen Feind.“[1] Dass Die Amerikaner unsere Feinde sind – mit dieser Sicht steht Jakob Augstein nicht alleine, dieses Ressentiment hat eine große einende Kraft, die Menschen von links bis rechts zusammenführt. Wirft man einen Blick in die einschlägigen Foren, geht es kaum noch um NSA und PRISM, sondern um die „Amis“, die wahlweise als „bösartig“, „barbarisch“, „dekadent“, „oberflächlich“ oder „kulturlos“  und „dumm“ beschrieben werden – meist alles zugleich. Das berüchtigte Zitat von Georges Clemenceau „Amerika, das ist die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne den Umweg über die Kultur“ wird allenthalben gerne und mit genussvoller Süffisanz zitiert.Antiamerika1 Auch bei Vorurteilen und Klischees ist es oft hilfreich, sich deren Entstehungsgeschichte anzusehen: Georges Clemenceau sagte diesen Satz 1919 auf der Friedenskonferenz von Versailles, wo er als amtierender französischer Ministerpräsident die größtmögliche Schwächung Deutschlands erzwingen wollte, aber am Widerstand des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilsons scheiterte. In seiner Wut auf Wilson griff Clemenceau auf das vermutlich älteste antiamerikanische Vorurteil zurück, das der „kulturlosen Amerikaner“. Es taucht erstmals unmittelbar nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten als Vorurteil des europäischen Adels auf – bezeichnenderweise gegenüber einem Land, in dem Bürger sich selbst in freien Wahlen eine Regierung geben und die Stimme eines Arbeiters oder Bauern das gleiche Gewicht hat wie die eines ehemaligen europäischen Adeligen. Das Ideal der Gleichheit, das von der Neuen Welt ausging, wurde von europäischen Fürsten zwangsläufig als Annullierung ständischer Traditionen und Privilegien begriffen.[2] Diese Verbürgerlichung des Staates konnte vom Adel naturgemäß nur als kultureller Rückschritt gesehen werden, empfand man sich und seinesgleichen doch als Inbegriff von Kultur. Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dieses Vorurteil von bürgerlichen Schichten aufgegriffen. Vor allem die Vertreter der deutschen Romantik lehnten die Vereinigten Staaten, die ihr Entstehen einer Revolution verdankten, als geschichts- und kulturlos ab und verherrlichten demgegenüber die „organisch gewachsenen“ europäischen Nationen. Damit schufen sie jenen Gegensatz von bloßer Zivilisation (Amerika) und den höheren Sphären der (deutschen) Kultur, der bis heute Bestand hat. Die romantische Ablehnung Amerikas beruhte zudem auf einer generellen Ablehnung liberaler Anschauungen, sowie der Behauptung einer vermeintlichen Vorherrschaft des Geldes in Amerika und der Zurückweisung eines „abstrakten“ Verfassungsdenkens und einer ebenso abstrakten Freiheit.[3] Exemplarisch dafür steht Hoffmann von Fallerslebens Gedicht „Die Neue Welt“ von 1843, in dem er den „Fetisch Freiheit“ anprangert:

Die Freiheit ist dir nur ein Fetisch,
Ein Sorgenstuhl und Schlendrian –
Sag an, du Krämervolk am Theetisch,
Was hast du für die Welt gethan?
Ach, hättest du nur Klapperschlangen!
Dagegen gibt’s noch Hülf’ und Schutz –
Weh dir! mich schreckt mit Angst und Bangen
DeinSchachergeist, dein Eigennutz.
Drum träuft nie Wein von deinen Reben
Und deine Blumen duften nie,
Kein Vogel darf ein Lied erheben,
Und todt ist alle Poesie.

Der Schriftsteller und Dramatiker Heinrich Laube, ein Freund Heinrich Heines, beschreibt Amerika in seinem Roman „Das Junge Europa“ als kleinliche „Kaufmannsschule, welche sich für die ganze Welt ausgibt […] Keine Geschichte, keine freie Wissenschaft, keine freie Kunst! Freier Handel ist die ganze Freiheit […]; was nicht Geld einbringt ist unnütz, was nicht nützt, ist überflüssig!“[4] Geschickt wird hier die Kultur- und Geschichtslosigkeit mit einem weiteren Topos der Amerikafeindschaft verbunden, der Geldgier. In Amerika zähle nur das Geld und alles sei käuflich – und daher eigentlich nichts wert, denn wahren Wert habe nur das Unverkäufliche. Auch Heinrich Heine weiß nichts Gutes über Amerika zu sagen:

Manchmal kommt mir in den Sinn
nach Amerika zu segeln,
Nach dem großen Freiheitsstall,
Der bewohnt von Freiheitsflegeln –
Doch es ängstigt mich ein Land,
Wo die Menschen Tabak käuen,
Wo sie ohne König kegeln,
Wo sie ohne Spucknapf speien.

In diesen Versen bricht sich die Angst und die Verunsicherung Bahn – vor einem Land in dem jeder alles werden kann, bar aller ständischen Schranken – und vielleicht der sehnsüchtige Neid auf die „Freiheitsflegel“.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden all jene Amerikaklischees, die bis heute nachwirken; zu finden waren sie vor allem im konservativen Milieu. Dann kam der 1. Weltkrieg. Der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten markierte den entscheidenden Wendepunkt des Krieges und führte unmittelbar in die Niederlage Deutschlands und Österreichs. Obwohl Woodrow Wilson Deutschland eine weit größere Demütigung ersparte, entlud sich der ganze Hass aller politischen Strömungen über ihm, dem Amerikaner. Nach einhelliger Meinung war Deutschland von den USA betrogen worden, und deren Kriegseintritt sei nur durch erhoffte Gewinne, also schnöden Mammon, motiviert gewesen (ein Argument, dass die Linke nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgreifen sollte). „Sie haben uns elend verraten!“ heißt es im Vorwärts vom 8. Mai 1919[6], und Clara Zetkin warf den USA in einer Reichstagsrede am 7. März 1923 vor, Deutschland in ein Kolonialland verwandeln zu wollen, wofür ihr auch die Rechte tosenden Applaus spendete.[7] Während die Linke in den Vereinigten Staaten vornehmlich das Weltzentrum des Kapitalismus und Imperialismus sah, phantasierte die Rechte die Zentrale der jüdischen Weltverschwörung nach Amerika – ein Topos, der sich bis heute in der Rede von der „US-Ostküste“ findet.

Auch im 2. Weltkrieg stellte sich der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten als kriegsentscheidend heraus. Damit hatte Deutschland zwei Kriege begonnen und verloren, und zweimal waren die Vereinigten Staaten schuld an der Niederlage. Das blieb nicht ohne Folgen. Der Antiamerikanismus ging nahtlos von der Weimarer Republik über das nationalsozialistische Deutschland in die deutschen Nachkriegsstaaten ein. Der SPD Vorsitzende Kurt Schumacher etwa warf dem in seinen Augen zu amerikafreundlichen Konrad Adenauer vor, sich zum „Kanzler der Alliierten“ zu machen.[8] Auf ostdeutscher Seite wiederum unterstellte Walter Ulbricht den USA, die Spaltung Deutschlands zu betreiben, um ihre (Kapital-) Interessen besser durchsetzen zu können. Im Jahr 1950 verstieg man sich in der DDR gar zu der Behauptung, die USA seien für die Kartoffelkäferplage verantwortlich, was Bertolt Brecht zu seinem Gedicht „Die Amiflieger“ inspirierte.[9] Außerdem hatten die „Amis“ die Frauenkirche zerstört und durch Flächenbombardements den Tod in deutsche Lande getragen. Diese „imperialistische Barbarei“ verzieh ihnen auch die westdeutsche Linke nicht. „Den Amerikanern“ wurde vorgeworfen, Dresden, aber nicht die Gleise nach Auschwitz bombardiert zu haben. Damit wurde den Vereinigten Staaten eine Mitschuld am Holocaust zugeschoben. Die Frage nach der eigenen Kriegsschuld wurde nicht nur von Rechten, sondern auch von Linken geschickt umgangen. Nicht mehr das Deutschland der Judenvernichtung, das Krieg und Verderben über Europa gebracht hatte, war schuldig, sondern die „kulturlose, barbarische, imperialistische“ Macht auf der anderen Seite des Atlantiks. Der Widerstand gegen den Vietnamkrieg kann in der Folge als endgültige Reinwaschung deutscher Geschichte gelesen werden; die USA hatten in den Augen der europäischen Kriegsgegner den „Stab des Vernichters“ übernommen. Der Demospruch „USA-SA-SS!“ war nur ein konsequenter Ausdruck dieser Schuldumkehr. Die Generation der 68er emanzipierte sich von der deutschen Vergangenheit, indem sie Amerika, das ewige Andere, zum moralischen Paria erklärte. Was die eigenen Väter getan hatten war zwar schlimm, aber was die Amerikaner jetzt taten, war noch schlimmer. Im Kampf gegen dieses Amerika ließ sich die Schuld der Väter abarbeiten. Und schon damals wurde, genau wie heute, die Vielfalt innerhalb der amerikanischen Gesellschaft nicht wahrgenommen, weil sie nicht ins Bild des barbarischen Amerikas passte. Das Feindbild Amerika war nur aufrecht zu erhalten, indem die große amerikanische Antikriegsbewegung ignoriert oder zumindest als nicht amerikanisch betrachtet wurde. Hunderttausende desertierten während des Vietnamkriegs, aber das konnte das Amerikabild vieler Europäer nicht ändern.

Es geht mir nicht darum, die USA von jeder Schuld reinzuwaschen. Wie die Regierung jedes anderen Landes haben auch diverse US-Regierungen schwere Fehler begangen, und die Auswirkungen solcher Fehler sind natürlich umso größer, je größer und mächtiger ein Land ist. Es geht mir darum, dass berechtigte Kritik dort ins Ressentiment umschlägt, wo ein ganzes Land und seine Bevölkerung beschuldigt werden, für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu sein; wo in der Kritik die Idee des „großen Satans“ überwiegt. Wenn den Menschen eines Landes kollektiv (angeborene) Eigenschaften zugesprochen werden, dann ist das ein Vorurteil, unabhängig davon, ob es um die Menschen in China, der Türkei, Deutschland oder den Vereinigten Staaten geht. „Die Amerikaner sind dumm und ungebildet“ heißt es dann etwa, und als Begründung für diese Aussage wird ein persönliches Erlebnis mit Amerikanern/Amerikanerinnen nachgeschoben, die nicht einmal gewusst hätten, in welchem europäischen Land die Stadt XY (hier kann jede/r wahlweise die eigene Stadt einfügen) liege und auch ansonsten keine Ahnung von europäischer Geschichte und Geographie gehabt hätten.GeschichtslosIst es schon unzulässig, aus einem Erlebnis mit einer Gruppe von Amerikanern auf alle Amerikaner zu schließen, so stellt sich zudem die Frage, warum Amerikaner das wissen sollten? Wie viele Europäer wissen, wo die Stadt Gettysburg liegt und welche Bedeutung sie in der Geschichte der Vereinigten Staaten spielte? Oder wie die Hauptstadt des Staates New York heißt? Richtig, die Antworten haben für Europäer keine Bedeutung, man muss sie nicht wissen, genauso wenig wie ein Amerikaner wissen muss, in welchem europäischen Land XY liegt. Dafür weiß vermutlich jedes Schulkind in den USA, was es mit Gettysburg auf sich hat und wer wann und wo die amerikanische Verfassung geschrieben hat. Wie viele Deutsche oder Österreicher wissen das von ihrem Grundgesetz/ihrer Verfassung?

Die Aussage „die Amerikaner sind kulturlos“ entbehrt, genau besehen, nicht einer gewissen Komik. Kaum eine Kunstrichtung kam in den letzten 50 Jahren ohne den Input aus den USA aus. Ob Musik, Malerei, Theater, Tanz oder Film, in den USA wurden Maßstäbe gesetzt. Kaum einer, der in schöner Bedenkenlosigkeit auf Amerika schimpft, hat nicht doch sein CD-Regal oder seine digitale Musiksammlung voll amerikanischer Musik. Aber dennoch höre ich selbst im weiteren Bekanntenkreis immer wieder den Satz: „Da fahre ich niemals hin, zu diesen Amis!“ Die gleichen Menschen hatten allerdings kein Problem, in das Ägypten Mubaraks zu reisen, weil man dort so schön tauchen konnte;  oder nach China, um die große Mauer zu besichtigen, solange sie noch steht;  oder der ein oder anderen lateinamerikanischen Diktatur einen Besuch abzustatten. Überall wird zwischen Regierung und den Menschen unterschieden – nur nicht bei Israel und den Vereinigten Staaten. Wer in „den Amerikanern“ das Böse sieht, will dann z.B. auch nicht wahrhaben, dass der Widerstand gegen die Abhörprogramme der NSA in den USA selbst am größten ist. Wer DIE Amerikaner zum Antreiber einer vermeintlich bösen Globalisierung erklärt, muss vergessen haben, dass das erste große Aufbegehren der weltweiten Antiglobalisierungsbewegung in Seattle stattfand – einer Stadt im Nordwesten der USA. Bob Dylan, Joan Baez, Michael Moore, Spike Lee, Noam Chomsky und Susan Sontag, um nur einige Ikonen der globalen Linken zu nennen, sind (waren) Amerikaner/innen.

Linke, die sich frei von Voreingenommenheit wähnen, die selbstverständlich niemals pauschalisierend über Türken, Polen oder Chinesen reden würden, pflegen auf der anderen Seite ihr liebgewonnenes antiamerikanisches Ressentiment. Wer jedoch Amerikanern pauschal bestimmte Eigenschaften unterstellt, muss sich wohl den Vorwurf gefallen lassen, nicht weniger vorurteilsbeladen und menschenfeindlich zu sein als so mancher rechte Ausländerfeind.

PS: Bei der Leichtathletik-WM in Moskau hat der Amerikaner Nick Symmonds als erster und bisher einziger Sportler öffentlich die Diskriminierung Homosexueller in Russland kritisiert. Seine Silbermedaille über 800 Meter widmete er seinen lesbischen und schwulen Freunden.



[2]Dan DINER, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002, S. 9.
[3]ebd. S. 42.
[4]zitiert nach ebd., S. 49.
[6]zitiert nach Diner, Feindbild, S. 71.
[7]zitiert nach ebd., S. 78
[8]ebd., S. 124
[9]ebd., S. 125 f.