Der zerstörte Traum

Nach vielen Jahren ist mir unlängst wieder ein Buch in die Hände gefallen, das hiermit wärmsten empfohlen sei: Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991.

Zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Experiments in Osteuropa verfasste Joachim Fest diese kleine Schrift; ein Essay, in dem er einen großen Bogen spannt von den frühen literarischen Utopien eines Thomas Morus oder Tommaso Campanella hin zu den großen Versuchen des 20. Jahrhunderts, die literarische Idee Wirklichkeit werden zu lassen – und zu deren Scheitern. Fests Kritik richtet sich nicht gegen die literarische Utopie, der er durchaus zugesteht, Parodie und Kritik an den herrschenden, oft genug als unerträglich empfundenen Zuständen zu sein; wenn er auch anmerkt, dass zu keinem Zeitpunkt eine liberale Utopie entwickelt wurde, eine Utopie mit den Grundzügen einer offenen Gesellschaft. Der utopische Gedanke geht zwangsläufig von der als absolut gesetzten Ordnung aus, „die hoch über den Einzelnen steht, ihre Interessen bändigt und die Gegensätze zur Ruhe zwingt.“ (S. 96)

Fests Buch richtet sich gegen alle Versuche, die Utopie  zum Handlungsmodell, zur Blaupause einer perfekten Gesellschaft zu erklären. Diesen Umbruch im utopischen Denken sieht er im 18. Jahrhundert; die literarischen Utopien, die die Spannung zwischen der erdachten und der wirklichen Welt wahrnahmen und thematisierten, verloren in der vorrevolutionären Aufklärung in Europa ihren Fabelcharakter. Beispielgebend hierfür ist Louis-Sébastien Merciers Buch „Das Jahr 2440“, in dem der utopische Ort, die ferne Insel hinter dem Horizont, in die Zukunft und damit auf die Zeitachse verlegt wurde. Dadurch gewann die Utopie erstmals einen eschatologischen Charakter: Das Ziel einer neuen Welt lag in der Zukunft. Grundlage aller späteren politischen Ideologien ist die daraus abgeleitete Idee, das einst verloren gegangene Paradies könne in einer fernen Zukunft wiedererlangt werden – entweder vorwärts gewandt, wie in der kommunistischen Utopie, gleichsam auf einer höheren Entwicklungsstufe als dialektische Synthese, oder rückwärts gewandt wie in den reaktionären faschistischen oder nationalistischen Utopien. Allen gemeinsam jedoch ist die Vorstellung eines idealen Staates als Zukunftsgewissheit und der Glaube ihrer Anhänger, für das Heil der Welt zu kämpfen.

Diese politischen Utopien speisen sich aus der dunklen Seite der Aufklärung, aus „jenem Trugschluss, dass die planende Vernunft alles bewerkstelligen könne“ (S. 92), „dass der Mensch die Unvollkommenheit seiner Bedingungen überwinden und die Welt gleichsam neu erschaffen könne.“ (S. 10) Der Mensch selbst wird zum potentiellen Schöpfer einer neuen Welt mit einer idealen Ordnung erklärt. (S. 24) Dieser Allmachtswahn sollte eine ganze Epoche prägen und ist noch immer vielfach anzutreffen. Joachim Fest stellt die Frage, ob nicht jedes dieser „Traumgesichte“ einer neuen Ordnung unvermeidlich in Terror enden musste. (S. 57) Das Wesen der Utopie, so argumentiert er, erfordert die totale Gesellschaft, weil die Verwirklichung der neuen Gesellschaft, ist ihre Struktur erst einmal „erkannt“, nach totalem Durchgriffsrecht auf alles und alle verlangt, erfordern doch die neuen Verhältnisse auch einen neuen Menschen, den es zu gestalten gilt. „Der Mensch wird umgebaut!“, so eine Parole der russischen Revolution. (S.31) Jeder Zweifel und jeder Widerspruch steht dem Ideal einer harmonischen Zukunft im Weg und wird zur Häresie erklärt. Damit aber sind sowohl der Terror als auch das Scheitern vorprogrammiert: Der Terror, weil die „Idee der Menschenrechte und ihrer verfassungsmäßigen Sicherung, der Gedanke der praktischen Toleranz, wonach man […] keinem Andersdenkenden Zwang antun darf […] vergeht vor dem manichäischem Furor des ‚Alles oder Nichts‘ und der Trennung der Menschen in Erwählte und Verdammte.“ (S. 79) Die Zensur ist dann geradezu erwünscht, dient sie doch jetzt einem moralischen Zweck, ebenso wie jedes Gefängnis oder Lager und jeder Richtplatz. Der Weg zum Heil erfordert Opfer. Das Scheitern, weil sich eine Gesellschaft, die den Zweifel und den Widerspruch als Häresie bekämpft, der Fähigkeit zur Selbsterneuerung beraubt.

Joachim Fest ist ein schöner und aufschlussreicher Essay gelungen, auch wenn ihm 1991 noch der Blick für die am Horizont heraufziehenden neuen, religiösen Utopien wie etwa der Islamismus fehlte – vielleicht auch, weil er dem religiösen Ursprung des utopischen Gedankens im Ganzen zu wenig Beachtung schenkte.

Nach all den Katastrophen der Utopien, von denen keine einzige je ihr Versprechen einer besseren Welt einlösen konnte, keine je über die Zerstörung des Bestehenden hinauskam, und jede im Terror endete oder stecken blieb, fragte Vaclav Havel bereits im Jahr 1985: „Wer schlägt uns hier wieder irgendwelche ‚strahlenden Morgen‘ vor? Wer beunruhigt uns erneut mit einer Utopie? Welche nächsten Katastrophen werden – in bester Absicht – wieder vorbereitet?“ (S. 99)

Hinter dem Festhalten an der Utopie sieht Joachim Fest die Verteidigung der Idee gegen die verachtete Realität: Statt sich von den Erfahrungen der letzten Jahrhunderte belehren zu lassen, gibt es noch immer bei vielen Intellektuellen die „Neigung, sich gegen das Leben ins Unrecht zu setzen, solange nur der Gedanke recht behält.“ (S. 100) Sich von der Wirklichkeit belehren zu lassen hieße, sich vom Gedanken an eine vom Menschen zu schaffende ideale Ordnung zu befreien und Joachim Fests Wunsch am Ende seines Essays zu beherzigen: „Eine Welt, in der Menschen ohne politische Erlösungsversprechen und doch wie Menschen leben können.“ (S. 103)