Der Zweifrontenmeinungskrieg: In der politischen Mitte weht ein rauer Wind

Ein Gastbeitrag von André Krause – ein Plädoyer für den offenen Umgang mit anderen Meinungen und die Bereitschaft zum Kompromiss als Grundlage von offener Gesellschaft und Demokratie

Das Jahr 2012 hat mich in politischer Hinsicht mehrfach auf die Probe gestellt. Ich habe gelernt, dass in der Mitte ein besonders rauer Wind weht. Und auch die kreativsten Geister können sich nicht ausmalen, welche argumentativen Absurditäten mitunter als „legitime Meinung“ gekennzeichnet werden. Nun ja, Schwachsinn steht in einer Demokratie aus guten Gründen nicht auf dem Index.

Wer regelmäßig durch die sozialen Netzwerke oder die Blogosphäre surft, wird mir vermutlich beipflichten. Viele Diskutanten, Kommentatoren und Autoren schlagen ihre virtuellen Zelte an den entlegensten Winkeln des Meinungsspektrums auf. Einige von ihnen dürften auf ihren Abwegen mittlerweile absolutes Neuland betreten haben. Terra incognita. Statt „Reichtum für alle“ lautet die neue Parole „Ein Königreich für jeden“. Die Verlockung ist aber auch enorm: Irgendwo auf dieser Welt gibt es für jeden einen paradiesisch anmutenden Ort, an dem keiner mehr widerspricht, an dem Fakten nur noch eine Meinung sind und das eigene Wort Gesetz ist. Ein Ort, an dem die Realität mit verbissener Leidenschaft abgebloggt wird. Ein paar fanatische Gefolgsleute a.k.a. notorische Ja-Sager streicheln das Ego.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die (scheinbaren) Kontrahenten einander nur noch schemenhaft durch das Fernglas erkennen und ihre Botschaften ständig per Megaphon übermitteln. Auch meine Ohren haben in den letzten Monaten oftmals geschmerzt, wenn ich nicht rechtzeitig in Deckung gehen konnte. Kein Wunder: Die Begriffe „Dialog“, „Verständnis“ und „Respekt“ hat mancher Zeitgenosse längst gänzlich aus seinem persönlichen Wörterbuch gelöscht. Als absoluter Herrscher in der eigenen Meinungsnische verlernt man es rasch, einen Millimeter auf den anderen zuzugehen. Im schlimmsten Falle platzt der Traum vom eigenen kleinen Königreich wie eine Seifenblase. Wer möchte am Ende des Tages, wenn der Akku des Notebooks oder Smartphones leer ist, schon mit völlig leeren Händen dastehen?

Die vielen Königreiche auf Mikroniveau sind bei näherer Betrachtung Bestandteile der kolossalen Polarisierung, die sich seit einigen Jahren in unserem Land breitmacht. Trotz der vielen absoluten Herrscher sind die Pole „links vs. rechts“ und „progressiv vs. konservativ“ in der Vogelperspektive deutlich erkennbar. Daseine große „Feindbild“ sorgt für eine Bündelung der Kräfte. Diese Polarisierung hat dazu geführt, dass in der Mitte immer weniger Zelte aufgeschlagen werden.

Beim Thema „Immigration“ zeigt sich diese besorgniserregende Entwicklung besonders deutlich.

Auf der einen Seite gibt es Menschen, die jeden Migranten als akute Gefahr für den Fortbestand des deutschen Volkes ansehen. Der Niedergang des Landes der Dichter und Denker ist schon mehrfach in schrillen Tönen beschworen worden. Klar, Deutschland schafft sich ab.

Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die Einwanderung grundsätzlich als ein positives Phänomen einstufen. Migranten sorgen in ihren Augen für eine dringend benötigte kulturelle Bereicherung des öden Lebens zwischen Flensburg und Konstanz. Darüber hinaus sind Migranten prinzipiell bemitleidenswerte Opfer.

Es ist offenkundig, dass beide Sichtweisen einen essentiellen Teil der Wirklichkeit ausblenden. Mit solchen Simplifizierungen ist im 21. Jahrhundert im Herzen Europas kein zukunftsfähiger Staat zu machen. Die Wahrheit liegt (auch) in diesem Falle in der Mitte.

Gefragt ist eine pragmatische Einwanderungspolitik nach US-amerikanischem Vorbild. Eine Einwanderungspolitik, die sich an den Bedürfnissen, Kapazitäten und (moralischen) Pflichten Deutschlands orientiert. Kurzum: Wir können nicht jeden ins Land lassen. Wenn wir jeden Wirtschaftsflüchtling aufnehmen, sind mittelfristig betrachtet soziale bzw. kulturelle Spannungen ebenso unvermeidlich wie ein ökonomischer Niedergang. Aber wir sind aus demographischen Gründen auf qualifizierte, ehrgeizige Migranten angewiesen. Wir bekommen zu wenige Kinder, um die schiefe Alterspyramide auch in der Zukunft vor dem Einsturz zu bewahren. Darüber hinaus müssen (auch!) wir ein sicherer Hafen für politisch Verfolgte, Kriegsflüchtlinge oder Vertriebene sein. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss man gar nicht auf unsere besondere historische Verantwortung in diesem Punkte verweisen. Letzteres führt meist nur zu erhitzten Gemütern.

Nun ist es jedoch schwierig, solch einen Standpunkt in Teilen der virtuellen Welt zu vertreten. Während die eine Seite empört „Landesverräter!“ schnaubt, brüllt die andere Seite „Nazi!“. Spätestens ab dem vierten oder fünften Kommentar wird mindestens eine dieser Qualifizierungen auftauchen. Godwin und Anti-Godwin. In der Regel gibt es für Sowohl-als-auch-Beiträge nur wenig Beifall. Vielleicht liegt es an der grassierenden Unart, nicht mehr den Gesamtkontext einer Aussage zu berücksichtigen, sondern einzelne Passagen nach dem Copy-and-Paste-Verfahren aus dem Zusammenhang zu reißen. Links kann dies übrigens genauso gut wie rechts.

Nicht selten stellt man sich die Frage, ob die Mitte nicht längst zur Marge verkommen ist. Bisweilen stellt man sich auch die Frage, ob man es demnächst nicht mit weniger Grautönen probieren sollte. Dann ist einem zumindest die Zustimmung von einer Seite sicher. Oberflächlich betrachtet verständlich: Wer führt schon gerne ständig einen Zweifrontenmeinungskrieg?

Aber ein Studium der Kommentare aus den Kleinkönigreichen, die Pol-übergreifend de facto weitaus mehr bindet als trennt, zeigt auf, dass solch eine Kapitulation unter allen Umständen zu vermeiden ist. Wer gesellschaftspolitische Fragen lösen möchte, muss stets beide Seiten eines Sachverhaltes beleuchten. Das lernt man eigentlich schon in der Grundschule. Ich bin zudem davon überzeugt, dass man nur in der Mitte die notwendige Empathie antrifft, die einen wirklichen Dialog auf Augenhöhe überhaupt erst ermöglicht. Extremisten, ohnehin in der Regel Misanthropen, zeichnen sich schließlich durch ihre Unfähigkeit aus, eigene Standpunkte zu hinterfragen oder gegebenenfalls zu tragfähigen Kompromissen im Interesse des Gemeinwohls zu gelangen. Die Meinung des anderen interessiert sie nicht, weil ihre Meinung die einzig legitime Meinung darstellt.

Um das oben skizzierte Beispiel noch einmal anzuwenden: Kann man sich mit Zeitgenossen an einen Tisch setzen, die Migranten grundsätzlich als Menschen zweiter Klasse betrachten? Kann man mit Zeitgenossen verhandeln, die jeden Politiker rechts der bündnisgrünen Ideologie ebenso grundsätzlich als verkappten Nazi betrachten? Die Antwort lautet selbstverständlich zwei Mal „Nein“. Aber diese Zeitgenossen vermehren sich gegenwärtig schneller als die Arbeitslosen in Griechenland oder Spanien. Absurd hin, extrem her: Sie sind real. Sie haben nicht nur eine Stimme. Sie können sie auch abgeben. 2013 ist Bundestagswahl!

Keine Frage: In der Mitte ist es anstrengend. Schläge unterhalb der Gürtellinie stehen auf der Tagesordnung. Oft ist es einsam. In der Mitte kann man seine Instinkte nicht ausleben. Im Bierzelt kann sie nicht atmen. In der Mitte herrscht immer ein Gleichgewicht aus Herz und Verstand. Eine Diktatur des Verstandes führt zu einer blutleeren Technokratie, in welcher keine vitale Bürgergesellschaft gedeihen kann. Kühle Kosten-Nutzen-Rechnungen sind unter Umständen das Ende des Sozialstaates. Blinder Idealismus spielt trotz aller guten Absichten letztendlich immer den Falschen in die Karten. Wer im eigenen moralischen Recht schwelgt, ist nämlich nur selten wehrbar und empfänglich für die Wirklichkeit. Ein typisches Dilemma der Mitte.

Aber davon sollten wir uns nicht abschrecken lassen: Bleiben wir standhaft. Widerstehen wir auch im neuen Jahr der Bequemlichkeit der Extreme. Lassen wir die Vereinigten Königreiche in der Marge links und rechts liegen. Treffen wir uns in der Mitte. Dazu gibt es keine Alternative. Zum Glück haben wir die Wahl – und die besseren Argumente. Mit diesem Bewusstsein lässt sich jeder zeitweilige Gegenwind aushalten. Und es gibt auf der Welt immer noch mehr Vernunft, als man manchmal glaubt…

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