Die Franken

„Was gehen uns ‚die Franken‘ an?“ fragt der Historiker Bernhard Jussen gleich zu Beginn seines Buches, um dann auf den folgenden rund 120 Seiten auszuführen, in wieweit wesentliche Grundlagen jener Kultur, die Europa heute ausmacht und sie von anderen kulturellen Räumen unterscheidet, in den fünf Jahrhunderten fränkischer Kultur geschaffen wurden. Zunächst erklärt er fundiert und verständlich die Voraussetzungen, die „die Franken“, ihre Gesellschaft und Kultur ermöglichten und beförderten, etwa die

Siegelring mit dem Bildnis Childerichs und Aufschrift CHILDIRICI REGIS („[Besitz] des Königs Childerich“).

Siegelring mit dem Bildnis Childerichs und Aufschrift CHILDIRICI REGIS („[Besitz] des Königs Childerich“).

Randlage Galliens innerhalb des Römischen Reiches. Seit dem 3. Jahrhundert waren in dieses Gebiet fränkische Bauern und Krieger eingewandert. Anders als die Goten oder Vandalen kamen sie jedoch nicht als Eroberer, sondern als Siedler, die sich unter die autochthone romanische Bevölkerung mischten. Ihre Krieger waren als Experten im römischen Heer

bald sehr gefragt, so dass gegen Ende des 4. Jahrhunderts bereits fünf Franken als Oberbefehlshaber ihren Dienst versahen.

Als Beginn des Aufstiegs der Franken kann das Jahr 390 gesehen werden. In diesem Jahr verweigerte der fränkische Heerführer Arbogast dem letzten römischen Kaiser auf gallischem Boden, Valentian II., die Gefolgschaft und ließ ihn (vermutlich von seinen Soldaten) ermorden. Mit diesem Ereignis wurde offenbar, dass das römische Imperium die Fähigkeit verloren hatte, in Gallien zu intervenieren. Das Randgebiet des Reiches wurde zum postimperialen Raum. Das Wesen desselben bestand darin (wie auch bei anderen postimperialen Räumen), dass alles in diesem Raum – Denkformen, zurückgelassene Institutionen, Repräsentationstechniken, politische und militärische Titel, politische Zeichen, Sprache, Alltagskultur etc. – zunächst weiter auf das Imperium bezogen blieb. Auch das römische Rechtssystem wurde weitgehend unverändert beibehalten, denn es gab in Gallien „keine einigermaßen entwickelte Alternative zur römischen Welt.“ (26) Das Imperium wurde nicht kriegerisch verdrängt, wie das in späteren kolonialen Gebieten häufig der Fall war, sondern hatte diesen Raum schleichend aufgegeben und damit sich selbst überlassen. Damit fehlte den gallischen Magnatenfamilien allerdings auch die Legitimation der eigenen Macht, denn diese kam vordem vom römischen Kaiser. Es sollte jedoch nur wenige Jahrzehnte dauern bis sich in Gallien ein neues Bezugssystem politischer Legitimation entwickelt hatte: Die Kirche und ihr dichtes Netz an Bischofssitzen. Das zentrale Amt des Bischofs wurde dabei zu einem politischen Amt der Stadtregierung umfunktioniert. „Damit waren die wichtigsten politischen Bausteine dessen, was einmal die fränkische Welt werden sollte, schon erfunden, bevor der erste fränkische König auftrat: Die flächendeckende kirchliche Infrastruktur“, so Jussen. (27) Die Taufe Chlodwigs (irgendwann zwischen 497 und 508) manifestierte seinen Eintritt in dieses noch junge politische Sinn- und Legitimationssystem; sie schuf jene enge Verbindung zwischen Kirche und Gesellschaft, zwischen Religion und Politik, die die kommenden Jahrhunderte prägen sollte.

Der Mittelteil des Buches, der durch ausgewählte Daten der Ereignisgeschichte führt, birgt einige Überraschungen für alle, die noch ein wenig Schulwissen über die Franken besitzen, denn der Autor hat es sich gleichsam zur Aufgabe gemacht, mit einigen Mythen aufzuräumen. So erfährt der Leser/die Leserin, dass die Ereignisse rund um die Machtübernahme Pippins, der die Herrschaft der Merowinger beendete, völlig im Dunkeln liegen, und dass, was uns einst als Gewissheit vermittelt wurde, nichts anderes als eine Rechtfertigungsgeschichte war, erfunden im Umkreis der karolingischen Herrscher, zur frühen Legitimation karolingischer Herrschaft. Noch schmerzhafter ist die Erkenntnis, dass Karl der Große vermutlich nicht am Weihnachtstag des Jahres 800 vom Papst in Rom zum Kaiser gekrönt wurde – fest steht einzig, dass Karl irgendwann um das Jahr 800 herum den Titel des Kaisers annahm und die kaiserliche Kanzlei im Mai 801 damit begann, ihn mit diesem Titel zu bezeichnen.

So wichtig die Ereignisgeschichte, die Bernhard Jussen quasi en passant abhandelt, zum Verständnis auch ist – wie die Eingangsfrage schon andeutet: Den Autor interessiert anderes brennender. So geht er der Frage nach, warum man im lateinischen Europa nicht auf die Idee kam, neugeborene Mädchen zu ermorden, was in vielen anderen Kulturen weit verbreitet war, und warum die Praxis des Ehrenmordes im Westen nicht geübt wurde. (8) Die Ursache für beides sieht er in der Forcierung der monogamen, untrennbaren Ehe, die – gemeinsam mit anderen Faktoren – eine Schwächung des ahnenorientierten Verwandtschaftssystems bedeutete. Die fränkische Gesellschaft war eine „Gesellschaft ohne Ahnenkult“. (101)

Auch in der Kunst ging das westliche Europa andere Wege als der Rest der Welt, und auch dafür findet sich eine erste Ursache in der fränkischen Kultur. Eine Streitschrift, die von Karl dem Großen selbst signiert ist und die vor allem der Abgrenzung zur Ostkirche dienen sollte, profanisiert das Bild. Wird dieses als Ikone in der Ostkirche sakralisiert und als “an sich” heilig betrachtet, befand Karl: „Bilder fallen nach dem Kunstverstand und der Kunstfertigkeit des Handwerks einmal schön, ein anders Mal hässlich aus. […] Sie haben weder gelebt, noch werden sie auferstehen, sondern, wie man weiß, werden verbrennen oder zerfallen.“ (118) Damit war dem Künstler erstmals Freiheit gegeben, denn anders als im Osten konnte er den Heiligen nicht im rituellen Sinne falsch malen, er konnte ihn höchstens im künstlerischen Sinne schlecht malen.

Auf vielen weiteren Gebieten hat die fränkische Kultur, folgt man Bernhard Jussen, Grundlagen geschaffen, die bis heute ihre Wirkung entfalten: Sei es in der Musik, in der Wirtschaft, im gesellschaftlichen System der Arbeitsteilung, in der Struktur der Gesellschaft und, nicht zuletzt, in der Bildung. Unter Karl dem Großen setzte eine regelrechte Bildungs- und Bücherkampagne ein. Ein wahres Heer von Experten, die Karl von überall her an seinen Hof kommen ließ, beriet den Kaiser und suchte Bücher, die es wert waren, kopiert zu werden. In den Schreibwerkstätten der Klöster (maßgeblich übrigens im Frauenkloster Chelles bei Paris) wurde alles an antiken Quellen kopiert, was greifbar war und ist uns auf diesem Weg erhalten geblieben. Darunter neben frühen christlichen Schriften auch eine beachtliche Sammlung „nicht systemkonformer“ Werke.

Wer sich für die Geschichte Europas interessiert, wer wissen möchte, wie die europäische Kultur zu dem wurde, was sie ist, dem/der seien „Die Franken“ von Bernhard Jussen ans Herz gelegt. In äußerst kompakter, dichter Form vermittelt der Autor fundiertes Wissen über die „fränkische Welt“, ihre Institutionen, ihren Glauben, ihre gesellschaftlichen und sozialen Strukturen – und darüber hinaus, was das alles mit uns zu tun hat. Bernhard Jussens leicht verständlicher und schön zu lesender Stil macht dieses Buch zu einem wahren Vergnügen, für den Leser/die Leserin ist jede Seite ein Gewinn.
Die Franken

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bernhard Jussen, Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München C.H.Beck 2014

Dieser Artikel erscheint auch auf GeschichtsBilder.net.