Integrationsthema Toleranz

Thesen, Ansätze, Diskussion
Eine Gastbeitrag von Zoltan Peter, Universität Wien
(Aufgrund der Länge des Beitrags steht dieser am Ende des Textes auch als Download zur Verfügung)

1. Allgemeine Bestimmungen

Den Impuls zur Entstehung dieses Aufsatzes und somit des im Folgenden zur Diskussion stehenden Projektes lieferte ein von Franzobel Ende 2011 veröffentlichter Artikel; ein Text, in dem er die streitbare, aber nicht überraschende Meinung vertritt, das Toleranzverhalten der „Österreicher“ habe sich in den letzten zwanzig Jahren höchstens an der „Oberfläche“ verbessert.
Zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen Österreichs haben mit ihrer kritischen Übertreibungskunst wohlverdiente internationale Anerkennung erlangt. Ihre

mob41_1172269318überdurchschnittliche Skepsis und ihre meisten überzogene Kritik des öffentlichen Lebens, die sie besonders im Laufe der letzten 100 Jahre praktiziert haben, gehören zu den wichtigsten Eigenschaften zeitgenössischer österreichischer Literatur. Es handelt sich um eine künstlerische Praxis, die ihre bedeutende gesellschaftliche Leistung allerdings nicht so sehr durch eine besonders hohe Stimmigkeit der Argumentation und nicht wegen ihrer Objektivität, sondern durch eine komplexe poetische Wirkung erzielt.

Ein solcher Diskurs erinnert permanent an diverse menschliche und soziale Unzulänglichkeiten, beispielsweise daran, dass die Gesellschaft bei Weitem nicht so tolerant und offen sei, wie sie sein sollte.

Franzobel, einer von den kritischen und engagierten Schriftstellern, hatte die hervorragende Idee, die Toleranz Österreichs am Beispiel des bei der Castingshow „Die große Chance“ von heute auf morgen populär gewordenen Travestiekünstlers Tom Neuwirth, der unter dem Namen Conchita Wurst in der Show von 2011 als Sängerin auftrat, einzuschätzen. In seinem Artikel Voten für die Wurstpartei kam er zum Ergebnis, dass sich seit den 80er-Jahren in Österreich etwas geändert hat.

Zumindest an der Oberfläche ist die Gesellschaft offener geworden. Mittlerweile tritt ein Geschminkter mit Stöckelschuhen und Stopfbrust im Fernsehen auf, feiert Erfolge und wird vom Publikum verehrt.“ Doch: „Die Wurst […] ist kein […] Beispiel für ein aufgeklärtes, tolerantes und weltoffenes Österreich, eher im Gegenteil. Ein Feigenblatt für die Schamlosigkeit hier urwüchsiger Kleingeistigkeit.[1]

In der Tat dürfte jedoch niemand im Besitz jener Daten sein, die es ermöglichen würden, anhand dieses Phänomens aufschlussreiche Analysen zum Toleranzverhalten der gesamten Gesellschaft zu erstellen. Man hat zwar gute Gründe anzunehmen, dass die Population, aus der für die Kunstfigur Conchita Wurst votierende Personen stammen, überdurchschnittlich tolerant sei, doch eine allgemeingültige Diagnose über das Ausmaß der Toleranz der Bevölkerung lässt sich anhand der sperrigen Datenlage natürlich nicht ableiten.[2]

Das Thema der Toleranz und die damit einhergehenden Widersprüchlichkeiten scheinen jedoch eine derartige gesellschaftliche Relevanz und Dringlichkeit zu haben, dass sie weder dem Zufall noch kurzen essayistischen Überlegungen überlassen werden sollten. Die folgende Abhandlung steht indes im Zeichen eines Versuchs, einige Dimensionen der Toleranz etwas ausführlicher zu diskutieren; etwas eingehender als zuletzt[3] und nun in Hinblick auf eine in der Aufbauphase befindliche Studie, in der die Untersuchung der Toleranz zunächst auf die Migration eingeschränkt wird.

Im ersten Teil des Aufsatzes werden Themen und Probleme rund um die Zuwanderung angeschnitten, die zur Entstehung des im zweiten Teil zu schildernden Projektes wesentlich beigetragen haben.

1.1. Ausgangssituation

Skepsis und kritisches Denken gehören zweifellos zu den wichtigsten Kapitalformen der Intellektuellen und somit einer modernen pluralistischen Gesellschaft insgesamt. Österreich ist nicht nur in ökonomischer, sondern auch kultureller Hinsicht ein reiches Land. Doch ganz zufriedenstellend ist die Situation natürlich nicht. Erstens, weil die oft bewusst überzogene „Österreichkritik“ jene, die zum Beispiel mit den Gepflogenheiten der österreichischen Literaten weniger vertraut sind, in die Irre führen könnte, und zweitens deshalb, weil die Kritiken etwa in der Toleranzproblematik beinahe ausschließlich nur eine Seite der Medaille betreffen, nämlich die „einheimische“.

In Bezug zu diesem Themenkreis melden sich Österreichs bestimmende Literaten und Intellektuelle vorwiegend kritisch zu Wort, doch selten bis gar nicht äußern sie sich kritisch über die in diverse zwischenmenschliche Schwierigkeiten geratenen MigrantInnen.

Die Österreichkritik, der gesamte Diskurs der Vergangenheitsbewältigung der letzten 30 Jahre, war zweifelsohne eine sinnvolle, eine geradezu moderne, globalisierungstaugliche sozio-kulturelle Investition. Ein neuer Anlauf wäre jedoch dringend empfehlenswert; eine Wende, in deren Zentrum eine Art Zukunftsbewältigung oder, um eine modische Wendung zu gebrauchen, eine „nachhaltige“ Orientierung bzw. Migrationsforschung stünde. Dabei ginge es beispielsweise weniger um kulturelle, ethnische oder religiöse Hintergründe, sondern um interkulturelle Merkmale des sozialen Lebens – so sollte zum Beispiel die Frage nach den Bedingungen des guten Lebens, nach Freiheit, Autonomie, Gerechtigkeit etc. auch in der Migrationsforschung eine stärkere Option werden. Denn wenn die Frage, ob „ein besser geführtes persönliches und besser organisiertes wirtschaftliches und soziales Leben die Chance verbessern könnte, endlich zum irdischen Glück zu gelangen“, Robert Misrahi zufolge „heute wieder eine neue Idee in Europa“ geworden sei, so sollte dies doch das Thema Migration auch etwas angehen.[4] Übrigens in einem Europa, das im Großen und Ganzen, wie Héctor Abad unlängst formuliert hat, „eine weniger ungerechte Insel in einer abgrundtief ungerechten Welt und vor allem ein[en] Weg [darstellt], der uns zeigt, daß man Wahnsinn, Fanatismus, absolute Ungerechtigkeit oder Greuel überwinden kann“[5].

1.2. Hintergrund versus Vordergrund

Der Begriff, der den Beginn und die Richtung einer migrationssoziologischen Wende anzudeuten vermag, die sich von der Herkunftsfrage, von dem „Woher?“, abwendet und sich mehr der Zukunftsfrage, dem „Wohin?“, zuwendet,  könnte unter Umständen „Migrationsvordergrund“ heißen; also wieder eine Wortneuschöpfung, die insofern eine Alternativlösung wäre, da diese Neuschöpfung die nach vorne gerichtete Perspektive durchaus zu vermitteln scheint.

Der Ausdruck ist allerdings weder ganz neu, noch ist er für empirische Zwecke ausgearbeitet. „Migrationsvordergrund“ gibt es laut Interneteinträgen schon seit ca. zwei Jahren. Am 22.10.2012 setzte ihn zum Beispiel bereits eine gewisse F. Abbas in ihrem für die Onlineausgabe der Zeit verfassten Leserbrief ein. Für die Autorin des Leserbriefes gleicht die Einwanderung einer Zeitreise.

Das Kind der zweiten Generation kommt in der neuen Welt an, während die Eltern durch eine Panne der Zeitmaschine ewig in der alten Welt verhaftet bleiben. […] Für die erste Generation der Auswanderer bleibt die Zeitreise leider in vielen Fällen eine ungenutzte Chance. Deshalb sollte die zweite Generation die verpasste Chance der Eltern unbedingt ergreifen und das Beste aus der Zeitreise mitnehmen. Sie sollte sich in den Migrationsvordergrund rücken.[6]

Dieser kritische Leserbrief dürfte den Zentralgedanken der angesprochenen Neuorientierung recht plastisch andeuten; eine Neuorientierung, die den Akzent weniger auf die Betonung der sozialen, politischen Differenzen und auf die Herkunft der Betroffenen setzt, sondern sich zum Ziel nimmt, zukunftsorientierte und transkulturelle Klassifizierungsweisen zu erschließen.

1.3. Selbstkritik und konfliktorientiertes Handeln?

In einer modernen pluralistischen Gesellschaft, in der die je konkret gesetzte soziale Handlung und nicht die Herkunft oder die religiöse Zugehörigkeit im Mittelpunkt der Betrachtung steht oder stehen sollte, wird es wohl notwendig werden, einen sich über alle Bevölkerungsschichten und ethnische Gruppen erstreckenden kritischen Diskurs über die Regeln und Normen des Zusammenlebens zu führen. In Österreich wäre zunächst eine verstärkte, innerhalb der eigenen Ethnie ausgetragene (intra-ethnische) Auseinandersetzung notwendig; ein selbst generierter Diskurs über das „Eigene“, in dem die Frage der Toleranz und all der Tugenden, die für ein möglichst reibungsloses Zusammenleben unerlässlich sind, deutlich offener und kritischer thematisiert wären.

Geht es in den migrationssoziologischen Studien und öffentlichen Diskussionen um die Frage der Toleranz oder des Nationalismus und Rassismus, so ist nicht zu übersehen, dass dabei eine bedeutende Einseitigkeit vorherrscht. Kritische Studien über die Praktiken und Einstellungen der Zuwanderer gibt es deutlich weniger als kritische Studien zur Mehrheitsgesellschaft. Anhand des 2012 von der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung (KMI) publizierten Dokuments zur Lage der Migrationsforschung in Österreich kann diese Einseitigkeit gut nachvollzogen bzw. genauer studiert werden.[7]

Die in den letzten 20 Jahren waltende Einseitigkeit – zum einen die enorme und im Ergebnis konstruktive Kritik des „Eigenen“, die im Endeffekt einen nicht zu unterschätzenden Reinigungsprozess des österreichischen Habitus herbeiführte, und zum anderen der schonende Blick auf das „Fremde“, der den ethnischen Minderheiten und den „Ausländern“ der 1980er-Jahre Großteils zugute kam, d. h. erheblich mehr soziales Ansehen und in der Folge eine verbesserte Rechtslage für sie schuf – hat bestimmt zahlreiche Aspekte und Gründe. Wobei der Effekt, den der Nationalsozialismus mit seinen Folgen auf diese Sicht der Dinge hatte, dabei wesentlich zu sein scheint. Für die deutschen und österreichischen Intellektuellen (besonders auffällig ist dies unter den Literaten, aber es betrifft teilweise auch die Forschung) ist es nach dem Zweiten Weltkrieg – verständlicherweise – unmöglich geworden, in ihrer Gesellschaftskritik ausgewogen vorzugehen – beispielsweise auf die Zuwanderer einen vergleichbar kritischen Blick zu werfen wie auf die Mehrheitsgesellschaft. Der Diskurs der Political Correctness, der vor ca. 20 Jahren hinzukam, verstärkte und popularisierte diese Situation noch erheblich.

KritikerInnen des Toleranzverhaltens und der Political Correctness (wie z.B. Slavoj Žižek) beanstanden daher aus gutem Grund, dass durch das Aufkommen der politisch korrekten Rede potenzielle Konflikte immer schwerer zu lokalisieren wären. Die Elite tritt, so die einleuchtende These des Erziehungswissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer, für die „Duldung von Fremden“ ein und zugleich verweigert sie ihnen die Möglichkeit der politischen Mitgestaltung. Mit Toleranz, zumindest so, wie sie in Deutschland gehandhabt wird – und damit meint er eine mehr oder minder „grenzenlose“, ja postmoderne Toleranz –, ließen sich keine „ethnisch-kulturellen“ Konflikte und keine Gewalt lösen. Denn diese „paternalistisch-harmonisierende“ Sicht ignoriere das Problem, anstatt darauf genauer einzugehen. Die Lösung der Frage der Gewalt bedürfe zuerst einer „Konfliktperspektive“, eines „konfliktbewusste[n] Handeln[s]“, denn erst dadurch ließen sich die Grenzen der Toleranz überhaupt bestimmen.[8]

Bereits ein flüchtiger Blick auf die allgemeine Lage des öffentlichen Diskurses über die Migration dürfte auch in Österreich ausreichen, um sich von der selten anzutreffenden Praxis eines solchen konfliktbewussten Handelns zu überzeugen.

1.4. Tabus rund um die Migration

Obwohl Migration seit einigen Jahren ein Topthema ist, gibt es noch immer Fragestellungen, auf die bis jetzt äußerst sporadisch eingegangen wurde. Es gibt obendrein zahlreiche Tabus auch innerhalb der Forschung. Ein solches Tabu betrifft die Themen der Toleranz, des Nationalismus, des Rassismus etc. in migrantischen Kreisen und bei ethnischen Minderheiten.

Konflikt- und Vorurteilsforschung gibt es reichlich, doch Studien, in denen zum Beispiel ein Konflikt, der sich zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund (beispielsweise im schulischen Alltag zwischen den Lehrkräften und den Eltern oder im Bereich der Jugendarbeit) ereignet, ausgewogen analysiert und dargestellt würde, gibt es weniger.[9] Obwohl allen bewusst ist, dass Kontroversen aller Art mindestens zwei Parteien voraussetzen. Oder mehr noch: Man spricht schon seit Jahren mutig und sehr besorgt zum Beispiel über das Ausmaß des in Ungarn existierenden Nationalismus und Antisemitismus[10], doch darüber, ob und wie es sich mit solchen Denk- und Handlungsmustern bei jenen verhält, die von dort auswandern, gibt es so gut wie keine Forschung und auch keine Debatte.

Es ist also im Großen und Ganzen ein Tabu, dass auch unter den Zuwanderern sozial und historisch begründete Vorurteile vorhanden sind, die gravierende Konflikte oder soziale Distanzierungen verursachen können.

1.5. „Kehren vor der eigenen Tür“

Natürlich wäre es wünschenswert, die Diskussion um die Toleranz so schnell wie möglich jenseits des „Migrantischen“ anzusiedeln. Doch solch ein, in Anknüpfung an Erol Yildiz, als „postmigrantisch“ oder mit Wolfgang Welsch „transkulturell“ zu bezeichnendes gesellschaftliches Stadium scheint derzeit noch etwas illusorisch. Es ist aber nicht weniger und nicht mehr illusorisch wie die folgende These: „Während das Ideal der Sesshaftigkeit zunehmend zum Traditionsbestand einer nationalen Moderne wird, praktizieren Migranten längst ein hypermodernes, mobiles Leben in mehreren Heimaten, das die Zukunft postnationaler Formen der Bürgerschaft vorwegnimmt.“[11] Eine derart verstandene Hypermodernität mag es schon geben, aber die Einschätzung, dass ihr Ausmaß unter den Zuwanderern größer sei als in der Mehrheitsgesellschaft, ist sehr zweifelhaft.

Im Spannungsfeld zwischen „Migrantischem“ und „Inländischem“ sowie in einer Gesellschaft, die der politischen Korrektheit tief verpflichtet ist, dürfte daher im Augenblick eine einfache, den alten Spruch des „Kehrens vor der eigenen Tür“ aufgreifende Vorgehensweise eine noch am ehesten funktionierende Alternative bieten. Anstatt einen möglichst unvoreingenommenen und kritischen Standpunkt einzunehmen, neigt derzeit jedoch die Mehrheit der MigrantInnen (die sich mit dem Thema wissenschaftlich oder publizistisch befassen) vielmehr dazu, sich so zu positionieren, wie es der etablierte Diskurs verlangt: nämlich extrem skeptisch und kritisch, aber nur denen gegenüber, die für „echte Österreicher“ gehalten werden.

Es wäre zu wünschen, diesen vielfach einseitigen und somit realitätsfernen Umstand auszugleichen. Die Zeit wäre nun reif, etwas mehr innenperspektivische Forschung, kritische Publizistik und Kunst zu betreiben. Gewappnet mit einer methodischen, interdisziplinären Vielfalt und kritischem Bewusstsein sollte es doch möglich sein, die Beschaffenheit von migrantischen Welten – samt ihren zu würdigenden positiven und ihren problematischen, ja ihren hin und wieder kabarettistische Züge[12] annehmenden Seiten – etwas differenzierter und kritischer aufzuarbeiten.

Die von Heiko Heinisch und Nina Scholz Anfang 2012 verfasste Studie Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf? ließe sich durchaus als eines der Beispiele für einen neueren kritischen Umgang mit der Migration zitieren. Eine der größten Herausforderungen pluralistischer Gesellschaften besteht dieser Studie zufolge darin, ob und inwiefern die Integration der in den letzten Jahrzehnten nach Westeuropa eingewanderten Menschen gelingt, die aus Ländern stammen, „deren Gesellschaften wesentlich geschlossener, dogmatischer und weniger pluralistisch sind als die europäische“[13].

Das Buch stellt in migrationssoziologischer Hinsicht eine gewisse Vorhut dar, weil es brauchbare Impulse liefert, die zur Erneuerung der „klassischen“, d. h. oft bemitleidend vorgehenden, Migrationsforschung und zur Erneuerung der üblichen Auseinandersetzungen zum Einwanderungsthema beitragen können. Die Kategorien Menschenrechte, Toleranz und Freiheit, die das Autorenteam in seinem Buch anwendet und womit soziale Vorgänge in den islamischen Ländern und in Europa diskutiert werden, können natürlich nicht alle Fragestellungen entlang der Migration beantworten. Aber der angewandte Ansatz vermittelt einen ersten Vorgeschmack auf eine erst zu leistende umfangreiche Untersuchung, in welcher die Gesellschaftsakteure in erster Linie nicht ihrer Herkunft, Religion, Bildung oder dem Migrationshintergrund nach zu untersuchen wären, sondern angesichts ihrer sozialen Praktiken, die entlang der universalen Menschenrechte, der Gerechtigkeit etc. angesiedelt sind. Man würde also in einer solchen Studie zuerst nach dem Ausmaß der Aufgeschlossenheit, Aufgeklärtheit etc. der Bürger und Bürgerinnen Ausschau halten und anschließend nach den Bedingungen ihrer Erscheinungsformen und Ausprägungen suchen.

1.6. Die Frage der Skepsis

Es gibt kaum etwas Wünschenswerteres als Skepsis, wenn es um die Frage der Offenheit oder um den Zustand der Demokratie in einer Gesellschaft oder Nation geht. An Skepsis mangelt es in Österreich sicher nicht. Geht es um die Zukunft einer modernen pluralistischen Einwanderungsgesellschaft, in der nicht die Herkunft, sondern die Qualität der Handlungen, ihre „Nachhaltigkeit“ zählen soll, so scheinen zwei Änderungen von Belang zu sein: Erstens, dass von diesem sich im Laufe der Jahre als konstruktiv erwiesenen Hang zu Kritik und Skepsis gegenüber allem, was man für das Eigene, was man für österreichisch hält, zumindest ein Teil auch auf die Mentalität der Zuwanderer überspringen würde, da sie (im Gegensatz zur Mehrheitsbevölkerung, zu den „Alteingesessenen“) durchaus öfter dazu neigen, das „Eigene“ (Kultur, Tradition, Moral etc.) zu beschützen und zu beschönigen.

Beispiele für konstruktive Kritik des „Eigenen“ gibt es in jedem Land, doch die Kritik des „Eigenen“ in der „Fremde“ ist im Großen und Ganzen eher unüblich. Weil der derzeit übliche Journalismus und auch ein erheblicher Teil der Forschung sich überwiegend auf die Vorurteile der „Österreicher“ den Zuwanderern gegenüber sowie auf die klägliche Situation der Minderheiten in bestimmten Herkunftsländern konzentrieren und auf die ethnischen Communities in Österreich überwiegend einen hütenden Blick zu werfen pflegen,[14] der nicht von heute auf morgen verabschiedet werden kann, so liegt auf der Hand, dass das reale Potenzial für eine kritische Beschäftigung mit migrantischen Welten zunächst von den MigrantInnen selbst kommen muss. Doch, auch dazu gibt es bereits einige Beispiele sowohl in der Forschung als auch außerhalb. Selbst wenn so manches provozierend erscheinen mag – wie in Österreich zum Beispiel Cahit Kayas mediale Äußerungen –, scheinen doch zahlreiche Initiativen – wie zum Beispiel jene von Necla Kelek, Ahmad Mansour oder Hamed Abdel-Samad in Deutschland – von der Grundidee geleitet zu sein, dass der hütende Blick auf die Migration nicht für alle Zeiten produktiv zu wirken vermag; und davon, dass es, um diesem etablierten Blick entgegenzuwirken, in erster Linie einer kritischen intra-ethnischen oder communityinternen Vorgehensweise bedarf.

2. Forschungsperspektive

2.1. Einleitung

Im Laufe der letzten 20 Jahre fand eine beachtliche Durchmischung und Umstrukturierung zahlreicher vertikaler und horizontaler gesellschaftlicher Hierarchien und Wertvorstellungen statt, die in den 1980er-Jahren noch als recht stabil und selbstverständlich galten. Es ist zum Beispiel kaum zu übersehen, dass sowohl die neoliberale Weltanschauung als auch die Postmoderne in den letzten Jahren sichtlich an Attraktivität verloren haben. Wohingegen die Moderne, diese ursprünglich rein europäische Geistes- und Kulturströmung, in den vergangenen 20 Jahren zu einem über die europäische Philosophie und Literatur hinausgehenden globalen sozio-kulturellen Thema und Diskurs geworden ist, und im Unterschied zu den 1980er-Jahren scheinen derzeit die Ideale der Moderne gefragter zu sein als die Tugenden der Postmoderne.[15] Einige Kategorien der Aufklärung, wie zum Beispiel Freiheit und Gerechtigkeit, scheinen derzeit dominanter zu sein als die von Jean-François Lyotard 1979 beschriebenen Inhalte der Postmoderne. Das Ende der von ihm prognostizierten großen Erzählungen, vor allem seine These, dass die Aufklärung ein Auslaufmodell geworden sei, ist heute weniger nachvollziehbar als in den 1980er- und 1990er-Jahren.

Im Europa der letzten 20 Jahre hat ein Orientierungswechsel auch im Hinblick auf die Toleranz stattgefunden, der als ein Abrücken von der teilweise romantisch und relativistisch angehauchten „postmodernen“ Toleranz beschrieben werden könnte. Viele der in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückten Toleranzdebatten suchen zu Recht nach den Grenzen des Tolerablen und nicht mehr danach, ob die Toleranz für Individuum und Gesellschaft unentbehrlich oder gar kontraproduktiv sei.

Die Debatte um die Toleranz ist natürlich nicht heute entstanden. Unter vielen anderen plädierten Karl Popper und Herbert Marcuse gegen eine unkritische Befürwortung der Toleranz. Popper sprach in seinem 1945 erschienenen und viel zitierten Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde vom Paradoxon der grenzenlosen Toleranz; davon, dass die reine Toleranz unweigerlich Gefahr laufe, von der Intoleranz liquidiert zu werden, da sie eigentlich alles, selbst die Intoleranz, erdulden müsse.

Für Marcuse lag das Problem allerdings nicht in der Toleranz. Er erblickte das Problem nicht in dem Begriff (hielt er die Toleranz doch in einem Essay für „das Telos der Wahrheit“), sondern im Fehlen der politischen und sozialen Bedingungen für eine gerechtfertigte demokratische Toleranz.[16]

Toleranz ist mittlerweile nicht nur ein philosophisches Thema, sondern sie ist auf allen Ebenen der europäischen Gesellschaften Tag für Tag präsent. Über Toleranz – als positiv besetzter Begriff – wird vom Kindergarten aufwärts bis in die höchsten Ebenen der Politik diskutiert und verhandelt. Sie zählt neben Gerechtigkeit, Solidarität etc. zu den Grundwerten der Europäischen Union.[17]

Im Bereich der Vorurteilsforschung gilt Toleranz im hohen Ausmaß als „anzustrebendes Gegenteil von Vorurteil“. Und überhaupt: „Toleranz erscheint also als positiver Gegenentwurf zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen und soll als anzustrebende Grundhaltung von Personen ein friedliches Zusammenleben in der pluralistischen Gesellschaft ermöglichen. Die These, dass Toleranz im Sinne einer individuellen Haltung mit Vorurteilen nicht vereinbar ist, ist nicht nur öffentlich, sondern auch wissenschaftlich weit geteilt.“[18] Oft wird auf die Möglichkeiten der Vernunft hingewiesen und an soziale Praktiken erinnert, die zeigen, dass eine hinreichend friedliche Koexistenz abweichender Lebensformen durch angemessene Toleranz durchaus möglich ist. In der aktuellen Toleranzforschung gilt jedoch, dass man der Toleranz diese positive Rolle nur dann beimessen kann, wenn es gelingt, sie vielschichtig zu konzipieren und ihre Grenzen möglichst genau zu bestimmen.[19] Denn gängige Verständnisse der Toleranz eigenen sich nicht, so das Ergebnis der empirischen Studie von Klein und Zick, „für den Abbau von Vorurteilen“[20].

2.2. Toleranz ja, aber welche?

Das Ausbremsen des Toleranzgedankens und die Verleugnung seines bisherigen Ertrags kann trotz mancher berechtigter Einwände gegen seine Anwendung kaum das Endziel sein. Denn Toleranz ist nicht eine Haltung, die dem Schwierigen am Zusammenleben ausweichen will, sondern vielmehr eine, die die dazu nötigen Anstrengungen auf sich nimmt. Sie bevorzugt nicht ein blindes Streben nach einem „Sieg“, sondern eines, dem die friedliche Koexistenz bestehender Unterschiede ein Anliegen ist. „Toleranz ist“, so definierte sie zum Beispiel Alexander Mitscherlich in seinem einschlägigen Buch, „das Ertragen des anderen in der Absicht, ihn besser zu verstehen.“[21]

Das Gebot der Ehrlichkeit verlangt, erinnert André Mercier, dass wir die Unvollkommenheit unseres eigenen Bildes anerkennen und damit anderen Bildern die Chance geben, auch richtig zu sein. Ferner müssen wir eingestehen, dass jeder von uns einer Situation entstammt, welche ihm auf dem Wege der Erziehung ein Bild der Wirklichkeit vermittelt hat, das von den Meinungen seiner Lehrer, seiner Umgebung, seiner Gruppe gefärbt ist. Eine vollkommene Unabhängigkeit des Urteils besitzt praktisch keiner.[22]

„Toleranz beinhaltet“ Heiner Hastedt zufolge „eine Relativierung der je eigenen Bezüge und eine Konfrontation mit verschiedenen in Kraft befindlichen Kritiken, ohne dass auf starke letztgültige Maßstäbe der Rationalität gesetzt werden kann; denn solche starken Gründe sind, anders als Rainer Forst unterstellt, immer kontextabhängig.“[23]

Rainer Forst stellt seinen philosophisch begründeten Begriff der Toleranz ins Zentrum des Konflikts und auch er geht dabei weit über das bloße Erdulden einer anderen Weltsicht hinaus. „Die Toleranz ist in Konflikten gefordert, die sich nicht normativ auflösen, sondern nur durch eine Haltung der Toleranz ‚entschärfen‘ lassen; dabei ist die Forderung nach Toleranz eine Parteinahme für eine möglichst unparteiliche Konfliktregelung, sie steht dabei aber nicht außerhalb des Streits.“[24] Die Regelung eines solchen normativ nicht zu lösenden Konflikts soll Rainer Forst zufolge zwar moralische, ethische und religiöse Gründe sehr wohl in Betracht ziehen oder eher ziehen müssen, aber letztendlich sind es für ihn vernunftorientierte Rechtfertigungen, die am ehesten im Stande sein sollten, Konflikte dauerhaft zu lösen. Kurzum: Rainer Forst beabsichtigt in seiner umfangreichen und komplexen Habilitationsarbeit, eine „normative autonome Konzeption“ zu entwerfen, eine „reflexiv-ethisch“ begründete Theorie der Toleranz, „in der keine anderen Werte zur Grundlage der Toleranz gemacht werden als das übergeordnete Prinzip der Rechtfertigung selbst“[25]. Das Prinzip der Rechtfertigung markiert in diesem Konzept die Grenzen der Toleranz. Diese Grenze bedeutet nichts anderes, als „eine Grundform moralischen Respekts einzufordern, die schlechterdings verbindlich ist und zudem von Gruppen, die besondere Rechte verlangen, selbst in Anspruch genommen wird. Und die Basis, auf der der Respekt für eine Gruppe eingefordert wird, muss auch innerhalb einer solchen Gruppe gelten.“ Werden in einer Gruppe etwa psychische oder körperliche Zwänge ausgeübt, so sind die Grenzen der Toleranz selbstverständlich erreicht. Und das nicht, „weil damit notwendige Bedingungen des guten Lebens verletzt werden, sondern weil dies die Würde moralisch autonomer Wesen verletzt, die ein Recht auf Rechtfertigung haben.“[26]

2.3. Ausgangsbasis

Unter individueller Toleranz soll in diesem noch in der Aufbauphase befindlichen Projekt eine an eine bestimmte (dem Bezugsgegenstand stets angepasste) Stelle zwischen maximaler Ablehnung und maximaler Akzeptanz zu verortende Einstellung eines Individuums verstanden werden. Sie wird als einer der wesentlichen praktischen Koordinatoren menschlichen Verhaltens in Konfliktsituationen betrachtet. Toleranz wird durch das sie umgebende soziale (familiäre, schulische, berufliche, politische etc.) Umfeld mitbedingt und ist einer kontinuierlichen, aber alters- sowie strukturbedingten Veränderung unterworfen. Und zwar dermaßen, dass sie früher oder später zur einer notorischen und aktiven Fähigkeit, zu einem Habitus („strukturierende Struktur“ im Sinne Bourdieus) werden kann. Unter entsprechenden Umständen und durch längere Übung kann sie also zu einem dynamischen Verhaltensmuster werden, das die über den eigenen Horizont hinausgehenden Welten hinreichend nachvollziehen, erdulden und im gegebenen Fall zurückweisen oder in die eigene Welt integrieren kann.

Allgemeine, projektleitende Fragestellungen:

a)    Welche Toleranzkompetenzen weisen jene MigrantInnen auf, die seit einigen Monaten in Österreich leben, und welche Kompetenzen jene, die seit mehreren Jahren in Österreich leben?
b)   Welche Bedingungen spielen bei einer Veränderung bzw. einer Stagnation der Toleranzwerte eine bedeutende Rolle?
c)    Welche Rolle spielen die ethnische und kulturelle Herkunft, Kenntnisse der deutschen Sprache sowie die Berufsgruppen- und die Milieuzugehörigkeit bei der Toleranz?
Das Projekt geht dabei von folgenden Annahmen aus:

1)      Im Umgang mit diversen sozialen Einstellungen, so zum Beispiel im Umgang mit der Toleranz, lassen sich die einzelnen Länder Europas derzeit voneinander relativ gut unterscheiden. Wir gehen daher davon aus, dass, auch wenn solche Unterschiede Tag für Tag geringer werden, im Umgang mit der Toleranz zwischen den „Kernländern“ der EU und den Ländern, die in den vergangenen zehn Jahren der EU beitraten bzw. demnächst beitreten werden, relevante Unterschiede bestehen.[27]
2)      Daher (auch wenn zwischen den im Ursprungsland Gebliebenen und denen, die auswandern, markante Einstellungsunterschiede vorliegen könnten) besteht auch zwischen dem Toleranzverhalten jener Menschen, die beispielsweise in Ost- und Südosteuropa sozialisiert wurden und in den vergangenen 20­–30 Jahren (als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene) nach Österreich übersiedelt sind, und dem Toleranzverhalten jener, die hier geboren wurden und/oder seit zwei oder mehreren Generationen in Österreich leben, ein bestimmter Unterschied.
3)      Diesen Unterschied (es kann z. B. auf der einen Seite zu viel Akzeptanz und auf der anderen Seite zu viel Ablehnung einer bestimmten Handlung vorliegen) führen wir pauschal (Makroebene) auf die Differenz der politischen Systeme Ost- und Südosteuropas sowie Westeuropas, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1989 jeweils etabliert wurden, zurück (kommunistische Diktatur versus Demokratie). Diesen Unterschied im Hinblick auf die Toleranz sehen wir als derart augenfällig an, dass wir für dessen empirische Untersuchung (in diesem Projekt) keinen dringenden Anlass sehen. (Die bisherigen Ergebnisse vorhandener einschlägiger Studien reichen für unsere Zielsetzung zunächst aus.)
4)      Dieser, wie immer geartete, Unterschied reduziert sich, jedenfalls verändert er sich aber im Laufe der im Einwanderungsland verbrachten Jahre (Stichwörter: Akkulturation, Integration, Assimilation). Die Geschwindigkeit und die Qualität der Veränderung des Toleranzverhaltens hängen über die Dimension der Zeit (Einstellungsveränderung durch biologische Alterung) und über die von der Aufnahmegesellschaft bereitgestellten Ressourcen (z. B. von der Qualität der Schulen, Kindergärten und vom Arbeitsklima) hinaus selbstverständlich von vielen anderen Faktoren, vor allem von den diversen individuellen und sozialen Kapitalsorten der betreffenden Personen und von den ihnen bislang zugekommenen gesellschaftlichen und beruflichen Positionen ab. Die Geschwindigkeit und die Qualität der Veränderung des Toleranzverhaltens hängen darüber hinaus auch mit dem Einwanderungsalter sowie mit der Milieuzugehörigkeit und der Struktur des familiären Mikrokosmos (Erziehungsqualität) zusammen.
5)      Toleranz hat in Summe für diejenigen, die unter demokratischen politischen Rahmenbedingungen und in antiautoritären, respektvollen etc. familiären Verhältnissen sozialisiert wurden, eine deutlich andere Dimension als für jene, die in diktatorischen Ländern und unter Umständen aufgewachsen sind, in denen sie nicht die Möglichkeit hatten, Grundsätze des toleranten Umgangs zu erlernen. Und umgekehrt: Das Erlernen eines toleranten Verhaltens ist freilich schwer, wenn weder die eine noch die andere Bedingung je vorhanden war. Weit schwieriger, aber notwendig wird es, zu ermitteln, wie es sich mit der Fähigkeit zur Toleranz verhält, wenn die eine oder die andere Bedingung gegeben ist, eine andere aber fehlt; wenn zum Beispiel die familiären Bedingungen für die Toleranz da sind, sie aber sonst in allen Gesellschaftsbereichen fehlen: in der Schule, in der Arbeit, in der Politik usw.

Diese projektleitenden Annahmen basieren auf Forschungsergebnissen und anderen Befunden und Beobachtungen, die auf diese Unterschiede direkt oder indirekt Bezug nehmen. Häufig wurde auf mangelnde Toleranz und auf einen ausgeprägten, konfliktstiftenden Nationalismus in den früheren „Ostblockstaaten“ hingewiesen.[28] In einer aktuellen Studie wurde zum Beispiel erhoben, dass in osteuropäischen Ländern die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ höher liegt als in Westeuropa:

Vor allem in Osteuropa sind negative Vorurteile gegenüber Homosexuellen, die durch die Unterstellung mangelnder Moral und eine Diskriminierungsabsicht gekennzeichnet sind, weit verbreitet. In Westeuropa ist das weniger der Fall, möglicherweise da dort die Bekämpfung feindseliger Meinungen gegenüber Homosexuellen eine lange Geschichte hat. Aus den vorliegenden Daten könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich in Osteuropa heute Einstellungen finden lassen, die zuvor in Westeuropa zu finden waren. […] In den osteuropäischen Ländern ist insgesamt die Zustimmung zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit höher als im Westen. Es existieren also Niveauunterschiede im Ausmaß der Abwertung von Minderheiten, die Konstitution der Menschenfeindlichkeit ist jedoch ähnlich.[29]

IMG_1847

© Jelena Kopanja

Doch es wurde weder in diesen noch in anderen Studien je eingehend erforscht, wie es sich mit solchen Denk- und Handlungsmustern bei jenen verhält, die aus diesen oder anderen Ländern, in denen es entweder noch nie eine Demokratie gegeben hat oder es sie erst seit einigen Jahren gibt, auswanderten. Bei aller Zustimmung für die Bemühungen und Resultate der transkulturellen Migrationsforschung oder der Milieuforschung, die nationale, kulturelle Herkunft, also „mitgebrachte“ Dispositionen aus dem Zentrum der Betrachtungen zu entfernen, bliebe das Ausblenden solcher, länderspezifischer, ethnisch-kultureller Merkmale ein Forschungsdesiderat und auch eine Fehlleistung mit negativen gesellschaftlichen Folgen.

2.4. Diskussion

Das Projekt leidet unter einem Dilemma: Soll es als Migrationsforschung per se ausgerichtet werden oder sich doch einem transkulturell orientierten soziologischen Ansatz verschreibt. Gewiss wäre es erstrebenswert, eine repräsentative Studie über das Toleranzverhalten aller in Österreich lebenden Menschen zu erstellen; eine umfassende Untersuchung, in der die Kategorie der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit unter Umständen gar keine Rolle spielen würde oder nur einer der herangezogenen Faktoren wäre. Einem solchen Zugang steht theoretisch nichts (praktisch die Höhe der Kosten) im Wege, und er wäre auf alle Fälle erstrebenswert, da er der in vielen Fällen zu Recht kritisierten Unterscheidung zwischen „migrantischen“ und „einheimischen“ Welten entgegenwirken könnte. Wenn zum Beispiel Erol Yildiz die herkömmliche Migrationsforschung in Deutschland nicht zuletzt wegen der andauernden Reduktion der Gesellschaft auf ein Wir und die Anderen kritisiert, stellt er zugleich Argumente in den Raum, die auf den ersten Blick auch dieses Projekt in das herkömmlich „kompensatorische“ Paradigma der Migrationsforschung rücken könnten. So zum Beispiel das folgende:

Der kompensatorische Ansatz, der die Migrationsforschung von Anfang an geprägt hat, geht von beschädigten bzw. unvollendeten Sozialisationsverläufen und daraus erwachsenen Defiziten aus, die durch gezielte Maßnahmen abgebaut werden sollen. Individuelle Entwicklungen und Krisen von Migranten nicht nur der ersten, sondern auch der zweiten Generation wurden zum Zweck eines besseren „Verstehens“ auf den geschlossenen kulturellen Kontext der „Herkunftsgesellschaft“ zurückgeführt. Diese Reduktion der Gesellschaft auf „Wir“ und die „Anderen“ brachte ein neues Differenzdenken hervor, das heute noch die Richtung des konventionellen Migrationsdiskurses bestimmt. Ist die Polarität erst einmal hergestellt, steuert sie anschließende Wahrnehmungen, die den vordefinierten Mythos zirkulär verfestigen. So werden die Migranten in die ideologische Struktur ihrer „Herkunftsgesellschaft“ eingeschlossen, während zugleich die „westlichen“ Werte als die überlegenen unterstellt werden.[30]

Ergänzend dazu muss jedoch angeführt werden, dass die konventionelle Migrationsforschung auch zu anderen, beinahe gegensätzlichen Einseitigkeiten neigt. Sie thematisiert zum Beispiel mit gutem Recht zahlreiche Vorzüge der Migration oder das Leiden an ihr. Sie tut aber oft so, als hätte nur die Mehrheitsbevölkerung, hätten nur die „Einheimischen“ strukturbedingte „Schwächen“ – wie zum Beispiel Vorurteile, nationalistische Neigungen etc. Oft verliert die Migrationsforschung die Balance zwischen mindestens zwei Polen. Anstatt beide Pole, den der Mehrheit und den der Minderheit, nach denselben Kriterien zu erforschen, klopft sie noch immer zu oft nur die Aufnahmegesellschaft auf ihr „Unvermögen“ akribisch und kritisch ab.

IMG_2032

© Jelena Kopanja

In den neueren transnational ausgerichteten Ansätzen wurde bereits einiges hiervon entschärft und teilweise übersprungen. Das hier vorgestellte Vorhaben greift beide Kritikpunkte auf, stellt aber den zweiten Punkt in den Vordergrund. Die Studie schwenkt also den Fokus ein Mal mehr auf einen sozialen Pol der österreichischen Gesellschaft, der unter anderem im Hinblick der Toleranz- und Vorurteilsfragen im überwiegenden Ausmaß Gegenstand von Stammtischdiskussionen und von populistischen Debatten und geringfügiger von wissenschaftlichen Studien ist. Dieser Pol ist aber alles andere als eine leicht überschaubare homogene Masse. Im Gegenteil: Er zeichnet sich durch eine recht eigenwillige Struktur und Komplexität aus, die mindestens an die bekannte Komplexität eines sozialen Feldes pluralistischer Gesellschaften heranreicht. An diesem sozialen Pol findet man auf jeden Fall sämtliche gesellschaftstypischen Konkurrenzformen und Lebensweisen.  Vom hypermodernen, kosmopolitischen bis hin zum konservativsten, ultranationalistischen Verhalten, von unvorstellbarem Elend bis hin zu verschwenderischem Reichtum ist hier alles Erdenkliche vorhanden. In der Studie geht es um diese noch immer recht unbekannte Welt, um die Erschließung von immer wieder überraschenden, hin und her pendelnden Veränderungsprozessen der Toleranz.

3. Literaturverzeichnis

Abad, Héctor; An beiden Ufern der Welt. Warum das Projekt Europa nicht aufgegeben werden darf. In: Lettre Internation. Nr. 100 (Jg. 25), Frühjahr 2013, S. 11 (9–11). Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann. URL: http://www.lettre.de/magazin/li-100. [abgerufen am 16.04.2013]

Abbas, F.; Sichere Landung im Migrationsvordergrund. (Lesebrief) In: Zeit Online. URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-10/­leserartikel-einwanderer-migrationsvordergrund. [abgerufen am 04.04.2013]

Bachinger [Dubel], Marta Lidia, 2007; Ausländerfeindlichkeit unter Ausländern. Eine Studie am Beispiel in Wien lebender MigrantInnen. Diplomarbeit, Universität Wien.

Forst, Reiner, 2003; Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a. M.

Forst, Rainer, 2013; Was tun? Toleranz ist nicht beliebig. Homepage: Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. URL: http://www.normativeorders.net/de/?catid=0&id=2359 [abgerufen am 01.10.13]

Franzobel; Voten für die Wurstpartei. In: Der Standard. Kommentar der Anderen. Printausgabe 12. Nov. 2011. URL: http://derstandard.at/1319182646874/Conchita-Wurst-Voten-fuer-die-Wurstpartei [abgerufen am 04.04.2013].

Freitag, Markus/Rapp, Carolin, 2013; Intolerance toward immigrants in Switzerland. Diminished threat through social contacts? [In Druck: Swiss Political Science Review]

Hastedt, Heiner, 2012; Toleranz. Stuttgart.

Heinisch, Heiko und Scholz, Nina, 2012; Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?. Wien.

Heitmeyer, Wilhelm, 1996; Einleitung: Ethnisch-kulturelle und religiöse Differenzen zwischen gewaltförmigen Politisierungen und inflationären Toleranzforderungen. In: Heitmeyer, Wilhelm/Dollase, Rainer. 1996, (Hg.); Die bedrängte Toleranz. Ethnisch-kulturelle Konflikte, religiöse Differenzen und die Gefahren politisierter Gewalt. Frankfurt a. M. S. 31–63.

Lendvai, Paul, 2010; Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch. Salzburg.

Libisch, Monika, 2008; Männliche Ehre. 
Diplomarbeit, Universität Wien.

Markus, Adam, 2013; Die Geschichte des ungarischen Nationalismus. Frankfurt a. M. (u.a.).

Marcuse, Herbert, 1968; Repressive Toleranz. In: Marcuse, Herbert (u.a.); Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt a. M. [5. Auflage]. S. 91­­–128.

Mercier, André, 1977; Philosophie als Weg zur Toleranz. In: Aggression und Toleranz. Wesen und Unwesen menschlichen Verhaltens. Bern/Frankfurt am Main. S.169–189.

Misrahi, Robert: Neue Ideen in Europa? (Die Erfahrung der eigenen Freiheit und die Wiederkehr des irdischen Glücks). In: Lettre Internation. Nr. 100 (Jg. 25), Frühjahr 2013, S. 49 (48–49). Aus dem Französischen von Patrick Lang.

Mitscherlich, Alexander, 1974; Toleranz – Überprüfung eines Begriffs. Frankfurt a. M.

Müller-Funk, Wolfgang; Wo sind die Grenzen des Tolerablen? In: Album, Der Standard, 13./14. 4.2013. URL: http://derstandard.at/1363707819209/Wo-sind-die-Grenzen-des-Tolerablen.

Peter, Zoltan: Plädoyer für einen differenzierteren Migrationsdiskurs: in: Der Standard, 18.09.2012 (Kommentar der Anderen). URL: http://derstandard.at/1347492902764/Plaedoyer-fuer-einen-differenzierteren-Migrationsdiskurs. [abgerufen am 01.10.12]

Prisching, Manfred, 2001 (Hg.); Postmoderne Tugenden? Ihre Verortung im kulturellen Leben der Gegenwart. Wien.

Rathkolb, Oliver/Ogris, Günther, 2010 (Hg.); Authoritarianism, History and Democratic Dispositions in Austria, Poland, Hungary and the Czech Republic. Innsbruck, Wien, Bozen.

Römhild, Regina: Die Richtung stimmt – aber der Weg führt noch weiter. Kommentar zur Studie „Migranten-Milieus“ des vhw. In: Verbandszeitschrift Forum Wohnen und Stadtentwicklung Heft 4, September 2009, S. 183­185. URL: http://www.vhw.de/fileadmin/user_upload/Download-Dokumente/FWS_04_09_Römhild.pdf. [abgerufen am 10.01.13]

Sievers, Wiebke, 2012; Migrations- und Integrationsforschung in Österreich: Literaturdatenbank und Forschungsstand. ÖAW, KMI Working Paper 2012. URL: http://www.oeaw.ac.at/kmi/working-papers.htm [abgerufen am 30.09.2012]

Statistik Austria, 2012; migration & integration. zahlen.daten.indikatoren. Wien, S. 96. URL: http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Service/Integration_2012/migration_–integration_2012_72dpi.pdf. [abgerufen am 30.09.2012]

Weiss, Hilde und Reinprecht, Christoph, 1998; Demokratischer Patriotismus oder ethnischer Nationalismus in Ost-Mitteleuropa? Empirische Analysen zur nationalen Identität in Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen. Wien u. a.

Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma, 2012 (Hg.); Kulturen in Bewegung: Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld, Transcript. S. 25–40.

Yildiz, Erol; Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe. In: SWS-Rundschau (50. Jg.) Heft 3/2010, S. 318–339. URL: http://www.uni-klu.ac.at/frieden/downloads/yildiz-artikel-postmigrantisch.pdf. [abgerufen am 30.04.2013]

Yildiz, Erol; Migranten-Milieus. Ein Kompass für die Stadtgesellschaft. (Kommentare zur vhw-Studie Migranten-Milieus 2009, S1–5) URL: http://www.vhw.de/publikationen/vhw-studie-migranten-milieus/ [abgerufen am 02.02.2013]

Zick, Andreas u.a., 2011; Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. [Hg. von Langenbacher, Nora, Friedrich-Ebert-Stiftung] URL: http://library.fes.de/pdf-files/do/07905-20110311.pdf Langenbacher, Nora, Friedrich-Ebert-Stiftung] [abgerufen am 30.09.2012].

Zick, Andreas/Klein, Anna: Toleranz versus Vorurteil? Eine empirische Analyse zum Verhältnis von Toleranz und Vorurteil In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jg. 65, Heft 2 (2013), S. 277 – 300.

Download (DOCX, 68KB)

[1]     Franzobel 2011.
[2]     Vgl. Wikipedia: Die große Chance. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Die_gro%-C3%9Fe_Chance_(Staffel_1) [abgerufen am 04.04.2013].
[3]              Peter 2012.
[4]     Misrahi 2013, S. 49.
[5]     Abad 2013, S. 11.
[6]     Abbas 2012.
[7]     Vgl. Sievers 2012.
[8]     Heitmeyer 1996, S. 25­–27.
[9]              Vgl. Studienreihe Konfliktforschung am IKF. URL: http://www.ikf.ac.at/buecher.htm.
[10]    Vgl. Weiss/Reinprecht 1998; Lendvai 2010; Rathkolb/Ogris 2010; Zick 2011; Adam 2013.
[11] Römhild 2009. S. 185.
[12]    Die folgende Geschichte ereignete sich zwar vor zirka sieben Jahren, doch sie dürfte weder von ihrer Aktualität noch von ihren tragikomischen Zügen etwas verloren haben.
Eine junge, charmante und kulturinteressierte Frau, die damals erst vor Kurzem nach Wien übersiedelt war, zog die Aufmerksamkeit ihrer Freunde, die an diesem Tag anlässlich eines Kulturprogramms zahlreich anwesend waren, mit folgender Aussage auf sich: „Mir geht es im Moment recht gut, da ich endlich etwas Gescheites mache. Und überhaupt, nach etwas längerer Zeit unter die Leute zu kommen, tut einem anscheinend gut. Ich habe Anfang dieser Woche auf jeden Fall einen Kurs begonnen. Ich habe also vor, in Wien zu bleiben.“
Kein Zweifel: Man freute sich sehr und gratulierte dem interessant scheinenden „Neuankömmling“ für ihre Pläne recht herzlich. „Der Deutschkurs“, fügte die junge Frau nach einer Weile enthusiastisch hinzu, wäre „an sich ganz in Ordnung, sicher eine gute Möglichkeit, doch eines stört mich an der Sache schon sehr: nämlich, dass der Anteil der ‚Ausländer‘ im Deutschkurs einfach zu hoch ist.“
[13]    Heinisch/Scholz 2012, S. 13.
[14] Zu den wenigen kritischen Forschungsversuchen auf diesem Gebiet zählen u.a. die von Bachinger (2007) und Libisch (2008) erstellten Diplomarbeiten.
[15]             Prisching 2001.
[16] Marcuse 1968, S. 102, 123.
[17] Vgl. EUR-Lex. Die Grundwerte der Europäischen Union, Artikel 2. URL: http://eur-lex.europa.eu/de/editorial/abc_c02_r1.htm.
[18] Klein/Zick 2013. S. 278.
[19] Vgl. z.B. Forst 2003, Heitmeyer 1996.
[20]Klein/Zick 2013. S. 278.
[21]    Mitscherlich 1974, S. 9.
[22]    Mercier 1977, S. 183–184.
[23]    Hastedt 2012, S. 89.
[24]    Forst 2003, S. 588.
[25]    Forst 2003, S. 20.
[26]    Forst 2003, S. 693.
[27] Derart klare Abgrenzungen existieren natürlich nur auf dem Papier. Alle beschriebenen Gesellschaften sind selbstverständlich deutlich heterogener und komplexer; alle setzen sich aus unterschiedlichen sozialen Räumen, Systemen etc. zusammen und ziehen somit jeweils verschiedene Handlungs- und Lebensweisen nach sich; Einstellungen und Praktiken, die sich unter dem Begriff der Gesellschaft nur sehr pauschal subsumieren lassen. Zugleich weisen die einzelnen nationalen sozialen Felder einer Gesellschaft zahlreiche transnationale Merkmale auf, bringen Klassifizierungs- und Lebensformen hervor, die über die Grenzen der einzelnen Gesellschaften hinaus in ähnlicher Form existieren.
[28] Vgl. z. B. Weiss/Reinprecht 1998, Lendvai 2010, Rathkolb/Ogris 2010, Adam 2013.[29] Zick 2011, 192–193.
[30] Yildiz 2009, S. 1.