Nachhaltigkeit und „Generationengerechtigkeit“

Seit Beginn der 1980er Jahre hat der Begriff der Nachhaltigkeit eine erstaunliche Karriere absolviert: Ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammend, meinte der Begriff zunächst, dass stets nur so viele Bäume geschlagen werden sollten, wie auch nachwachsen können, um den Fortbestand der forstwirtschaftlichen Nutzung zu gewährleisten. In großen Schritten entwickelte er sich gegen Ende des letzten Jahrhunderts zu einem Kampfbegriff der politischen Diskussion, auf den heute kaum eine Partei, und kaum ein Konzern verzichten will und kann. Damit einher ging allerdings eine Verschiebung der Bedeutung: Die mittelfristige Zukunft, die in der Forstwirtschaft Ziel der nachhaltigen Nutzung von Wäldern war, wurde auf künftige Generationen ausgedehnt.

In seinem 1979 erschienen Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung argumentierte der Philosoph Hans Jonas, dass die Menschen Verantwortung für die Zukunft zu tragen hätten, weil die modernen technischen Möglichkeiten sie zu weitreichenden Zerstörungen befähigten. In diesem Sinne definierte der sogenannte Brundtland-Bericht Our Common Future der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung nachhaltige Entwicklung als „Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ 1994 fand diese „Generationengerechtigkeit“, die eng an das Konzept der Nachhaltigkeit gebunden ist, sogar den Weg in das deutsche Grundgesetz. In Artikel 20a heißt es: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen…“.

Eine Verantwortung für künftige Generationen wirft allerdings eine Menge Fragen auf. Da sind zunächst Probleme mit der Definition. Wie viele Generationen sind unter dem Begriff künftig subsumiert? Meint das auch noch die tausendste Generation von heute an? Was wissen wir über zukünftige Generationen und ihre Bedürfnisse? Und was sind die natürlichen Lebensgrundlagen, die Artikel 20a anspricht? Wenn damit auch gemeint sein sollte, mit nicht nachwachsenden Rohstoffen (etwa Öl, im Gegensatz zu nachwachsenden, wie den schon erwähnten Bäumen der Forstwirtschaft) im Sinne der Künftigen vorsichtig umzugehen, müsste deren Verbrauch umgehend eingestellt werden und – und das ist die logische Finte an der Geschichte! – dürfte auch nie wieder aufgenommen werden, auch nicht von den Künftigen, für die wir darauf verzichten. Denn jeder Verbrauch entzieht der Zukunft einen Teil des Rohstoffs Öl. Da dieser nur in endlichen Mengen vorhanden ist, wird es irgendwann eine künftige Generation geben, für die er nicht mehr verfügbar ist. Und diese Überlegung gilt ebenso für alle künftigen Generationen.

Wesentlicher als diese logischen Spitzfindigkeiten ist jedoch ein demokratietheoretischer Grund: „Wem gebührt das Mandat, für die Künftigen zu sprechen?“ fragt der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Udo di Fabio in seinem Buch „Kultur der Freiheit“[i]. Die österreichischen Grünen etwa reklamieren dieses Mandat in ihrem Grundsatzprogrammvon 2001 klar für sich: „Ausgehend von unseren Grundwerten erweitern wir Grünen das Konzept der Solidarität und melden neue Interessen an: Das Interesse der nachfolgenden Generationen und das Interesse anderer nichtmenschlicher Lebewesen.“ (S. 10)

Nachfolgende Generationen können aber keine Interessen und Bedürfnisse haben, da sie noch nicht geboren sind, sie können ihnen höchsten unterstellt werden. Zu behaupten, ihre Interessen zu kennen, grenzt an Metaphysik. Wie viel haben wohl die Menschen vor 500 Jahren von unseren heutigen Interessen und Bedürfnissen gewusst? Und wie viel vor 200 Jahren, vor 100 oder 50? Wer mit den Interessen zukünftiger Generationen argumentiert, reklamiert nicht nur ein Wissen für sich, das er nicht haben kann, sondern meist ebenso das Recht, für diese unbekannte und vor allem riesige Masse nicht geborener Menschen zu sprechen. Wer mit künftigen Generationen argumentiert, versucht, sich eine nicht zu übertrumpfende fiktive Mehrheit zu verschaffen. Diese hat zwar kein reales Recht, an einer Abstimmung teilzunehmen, soll aber moralisch umso schwerer wiegen.

Selbstverständlich soll das bisher Gesagte die Notwendigkeit von Umweltschutz und von einer Entwicklung hin zu einem vorsichtigeren und bedachtsameren Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten nicht in Frage stellen. Aber als Argument für eine saubere und lebenswerte Umwelt und eine wirtschaftliche Entwicklung, die den Schutz dieser Umwelt und der Menschen zum Ziel hat, ist der Hinweis auf zukünftigen Generationen wenig sinnvoll. Diese Notwendigkeiten müssen und können aus dem Hier und Heute heraus begründet werden.

Der ungezügelte Verbrauch fossiler Brennstoffe (Öl, Gas) muss nicht gesenkt werden, weil er zukünftige Generationen dieses Rohstoffs beraubt, sondern weil er heute weltweit unsere Luft verpestet und damit unsere Lebensqualität senkt. Hinzu kommt, dass durch die Förderung von Erdöl in Nigeria, im Amazonasgebiet von Ekuador, in Westsibirien und anderswo die Lebensräume von Menschen zerstört und diese ihrer Lebensgrundlage beraubt werden. Massive Verstöße gegen die Menschenrechte und, wie etwa in Angola, Bürgerkriege sind die unausbleibliche Folge von Widerstand gegen die Förderpolitik von Konzernen und Regierungen. (siehe den Bericht von Greenpeace). Sowohl durch die Förderung, als auch durch den Transport von Erdöl werden große Landstriche sowie die Weltmeere unausgesetzt verseucht: „Der jährliche schleichende Öleintrag in die Ostsee wird auf über 20.000 Tonnen geschätzt. Das ist jedes Jahr ein Tankerunfall, von dem kaum jemand etwas mitbekommt“, so Christian Bussau, Schifffahrtsexperte bei Greenpeace. Dadurch werden heutige und nicht zukünftige Lebensräume zerstört. Die Folgen haben zu einem großen Teil Menschen in ärmeren Regionen zu tragen, deren Böden durch auslaufendes Öl dauerhaft geschädigt werden. Nicht anders sieht es übrigens mit dem Abbau von Gold aus, der große Gebiete in chemisch kontaminierte Mondlandschaften verwandelt.

Das Problem mit der Atomkraft ist weniger, dass die Abfälle tausende von Jahren strahlen. (Nicht dass das kein Problem wäre, aber es betrifft uns nicht unmittelbar.) Was uns betrifft sind Abfälle, die JETZT strahlen und die HEUTE eine Gefahr für ihre Umgebung darstellen: Salzstöcke, die jederzeit überflutet werden können und Fässer mit Atommüll, die irgendwo am Meeresboden liegen. Das Problem ist eine Technik, die für Katastrophen zumindest anfällig ist. Viele haben in ihrer kurzen Lebensspanne bereits zwei Kernreaktor-Katastrophen erlebt: Tschernobyl und Fukushima. Jeder dieser „Unfälle“ bedeutet, dass langfristig sehr viele Menschen geschädigt werden und riesige Gebiete für lange Zeit weder bewohnt noch anderweitig genutzt werden können. Das Überfischen der Meere entzieht nicht so sehr den Menschen kommender Generationen eine Nahrungsquelle, es entzieht den heute lebenden Menschen die Nahrung, weil es die Meere nachhaltig schädigt. Alle diese Fälle betreffen uns schon heute.

Als im 18. Jahrhundert von einer nachhaltigen Nutzung der Wälder die Rede war, ging es nicht um die Zukunft der Menschheit, sondern um die Gefahren für die damalige Gegenwart: Ein restlos abgeholzter Wald bringt keinen Ertrag mehr. Umfassender Schutz der Umwelt bedarf  keiner Unterstützung  aus einer fernen und unbekannten Zukunft, er erklärt sich aus den Bedürfnissen aller heute lebenden Menschen. Wer zukünftige Generationen ins Spiel bringt, traut offensichtlich den eigenen Argumenten nicht.



[i] Udo di FABIO, Die Kultur der Freiheit: Der Westen gerät in Gefahr, weil eine falsche Idee der Freiheit die Alltagsvernunft zerstört, München 2005