Problem Islam

Wir haben ein Problem mit dem Islam. Wir alle, die wir in freien und offenen Gesellschaften leben wollen, unabhängig von unserer Religion oder Weltanschauung: Wir alle haben ein Problem mit dem Islam – und die mehrheitlich islamisch geprägten Länder ebenfalls.Charlie
„DEN Islam gibt es nicht!“ werden seine Verteidiger an dieser Stelle empört ausrufen. Richtig. Und genau deshalb ist es auch unsinnig, nach jedem Terroranschlag erneut zu betonen, DER Islam sei eine Religion des Friedens und der Toleranz. Das ist er offensichtlich nicht. Eine Religion ist stets das und nur (!) das, was die Anhänger aus ihr machen; es gibt nur diese real existierenden Varianten und keine von den Gläubigen abgekoppelte ideale, wahre und reine Religion.

Inmitten der Menschen, die heute gemeinhin unter der Bezeichnung „Muslime“ subsumiert werden, befinden sich viele, die ihren Glauben abgelegt haben, die also nicht mehr Muslime sind. Andere praktizieren den Glauben nur an hohen Feiertagen und lassen Gott ansonsten einen lieben Mann sein. Viele bekennende Muslime leben ihren Glauben friedlich, betrachten ihn als eine Sache zwischen sich und Gott oder allenfalls zwischen ihrer Gemeinde und Gott. Wie groß ihr jeweiliger Anteil ist, lässt sich schwer schätzen, belastbare Studien gibt es kaum.

Aber um diese drei Gruppen geht es auch nicht, denn in der allgemeinen Wahrnehmung sind sie kaum präsent. Das liegt weder an ihnen, noch an unserer Wahrnehmung, sondern daran, dass die anderen, die im Islam einen politischen Auftrag sehen, eine Weltanschauung, die sie dem Rest der Menschheit notfalls aufzwingen oder der sie zumindest eine exklusive Stellung in Staat und Gesellschaft verschaffen wollen, um viele Dezibel lauter sind. Sie prägen das Bild des Islam. Die Rede ist nicht allein von den Extremisten des IS oder den dschihadistischen Killern von Paris, sondern vom islamischen Mainstream. Von den mehrheitlich islamisch geprägten Ländern kann sich außer Indonesien, Tunesien und der Türkei keines demokratisch nennen – und in der Türkei werden Demokratie und Menschenrechte schrittweise abgebaut. In Saudi-Arabien, Iran und Gaza herrschen Religionsdiktaturen mit barbarischen Strafen; religiöse Gewaltherrschaft mit an Genozide grenzenden Gewaltausbrüchen in Teilen Syriens, des Irak und Nigerias; Terroranschläge mit mittlerweile tausenden Toten in aller Welt – ausgeübt im Namen des Islam. Nirgends in der Islamischen Welt sind Meinungs- und Religionsfreiheit geschützte Güter. Und so eifrig selbst Saudi-Arabien die Morde von Paris nach außen verurteilt, niemand sollte sich davon täuschen lassen:  Im Land selbst wären die Redakteure und Zeichner von Charlie Hebdo wegen „Blasphemie“ hingerichtet worden – nach einem „Gerichtsverfahren“ und mit dem Schwert statt des Sturmgewehrs. Aber macht das einen Unterschied? Auf das, was Charlie Hebdo tut, steht auch in Pakistan und Kuwait die Todesstrafe, verboten ist es in fast der gesamten islamischen Welt. Und in kaum einem islamischen Land hätten sich die Zeichner frei in der Öffentlichkeit bewegen können, ohne Gefahr zu laufen, gelyncht zu werden.

Das Dar al-Ifta („Haus der Rechtsprechung“) der Al-Azhar Universität in Kairo, dessen Rechtsgutachten  weltweit als Leitfäden für sunnitische Muslime gelten, hat bereits am Tag vor der Veröffentlichung der neuesten Ausgabe von Charlie Hebdo eindeutig Stellung bezogen: Es wertet die Veröffentlichung neuer Karikaturen als „rassistischen Akt“. Diese Provokation werde eine neue Welle des Hasses auslösen, so die „Warnung“. In vielen islamischen Ländern wurde die Ausgabe bereits verboten. Und nur 9 Tage nach den verheerenden Anschlägen von Paris, 9 Tage nach weltweiten Solidaritätsbekundungen und Bekenntnissen zum Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Presse- und Kunstfreiheit, gehen in islamischen Ländern Tausende gegen Charlie Hebdo auf die Straße. Ein französisches Kulturzentrum und Kirchen werden zu zerstört. 9 Tage nach den Anschlägen sterben wieder Menschen wegen eines Bildes. Nicht nur eine Hand voll Terroristen scheint der Meinung zu sein, eine Zeichnung sei ein größeres Verbrechen, als der Einsatz von Bomben und Sturmgewehren und offensichtlich sind es nicht nur einige gewalttätige Extremisten, die eine Religion in Geiselhaft nehmen. Es ist vielmehr eine Bewegung, die ihren Ursprung in der Mitte der Religion hat.

Die Islamverbände versuchen diesmal, Zeichen zu setzen und verurteilen die Anschläge von Paris. Das ist begrüßenswert und wichtig – aber es ist zu wenig, solange sie nicht von ihrem Konzept eines politischen Islam abrücken und sich davor verschließen, ein neues Verständnis von Religion und Gesellschaft zu entwickeln. Solange sie weiterhin fordern, dass ihre Religion von öffentlicher Kritik und Spott ausgenommen bleibt, sind sie eher Brandstifter als Feuerlöscher. So sagt etwa Bekir Alboga, Vorstandsprecher der DITIP, im Interview: „Meinungsfreiheit verteidigen wir alle. Aber ob man den Führer, sozusagen den Propheten, […] muss man jetzt den Propheten Mohammed mit einer Handgranate malen?“ Ähnlich argumentieren viele andere islamische Gelehrte. Ähnlich hatten sie sich auch am Höhepunkt des Karikaturenstreits geäußert: Meinungsfreiheit sei eine schöne Sache, aber Mohammed müsse man nun nicht gerade zeichnen. Oft genug werden diese Aussagen mit der als Warnung getarnten Drohung verbunden, weitere „Provokationen“ könnten neue Gewalt auslösen.

Machen wir uns nichts vor: Der Terror hat längst tief in unsere Gesellschaften eingegriffen und so sehr sie ihn auch ablehnen mögen, die islamischen Verbände teilen EIN Ziel mit ihm: Definieren, was über den Islam gesagt werden darf und was nicht. Es geht um Deutungshoheit: Welches Theaterstück, welcher Film und welche Ausstellung ist „islamophob“ und „beleidigt Muslime“. Das unheilige Zusammenspiel von Gewalt und „Warnungen“ vor Gewalt hat sein Ziel weitgehend erreicht: Zahlreiche Satiriker, Kabarettisten und Karikaturisten geben unumwunden zu, über alles Witze zu machen, außer über den Islam. Charlie Hebdo war vermutlich eine der letzten Zeitungen, die diese Grenze offensiv missachtet hat – und sie missachtet sie im Namen unser aller Meinungsfreiheit weiterhin.

Wer die Arbeit von Charlie Hebdo diffamierend, rassistisch und ausgrenzend nennt, hat den Standpunkt des Magazins und seiner Mitarbeiter/innen schlicht nicht begriffen: Er ist zutiefst inklusiv, er bezieht alle Gruppen der Gesellschaft ein, indem er über alle gleichermaßen herzieht, über Linke wie Rechte, über die christlichen Kirchen ebenso wie über den Islam – und ja, Charlie Hebdo hat auch Witze über das Judentum gemacht, hat Rabbiner ebenso aufs Korn genommen wie Priester und Imame. Gerade indem Charlie Hebdo alle Grenzen missachtet, hebt es die Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen auf und schafft égalité: Alle haben ein Recht darauf, von Charlie Hebdo beleidigt zu werden. Das ist, wenn auch satirisch überspitzt, die Grundlage der offenen Gesellschaft.

Wer mit seiner Religion oder Weltanschauung in die Öffentlichkeit tritt, setzt sich zwangsläufig „dem Gespenst des nicht einverstandenen äußeren Beobachters“ (Peter Sloterdijk) aus und muss akzeptieren, mit kritischen und gegebenenfalls auch mit spöttischen Augen betrachtet zu werden. Hier wird sich zeigen, ob die Vertreter der islamischen Verbände es ernst meinen mit der Ablehnung des Extremismus: Können sie tatsächlich hinnehmen, dass ihre Religion in einer pluralistischen Gesellschaft nur eine von vielen verschiedenen Weltanschauungen ist und dass sie genauso wenig sakrosankt ist wie alle anderen – und vor allem: Werden sie diese Einsicht in ihren Moscheegemeinden vermitteln? Sie müssen Kritik am Islam, Witze und Karikaturen nicht begrüßen, sie können sie ablehnen und im Zweifelsfall auch gegen sie klagen; es obliegt ihnen, das islamische Bilderverbot zu achten, aber diese Achtung können sie von anderen nicht verlangen und sie müssen sich, wollen sie und ihre Anhänger integraler Teil dieser Gesellschaft sein, damit abfinden, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung sehr weit gefasst ist, und dass mit ihm gerade das Recht verbunden ist, Meinungen zu äußern, die anderen nicht gefallen. Dieses Recht müssen sie verteidigen – ohne Wenn und Aber.

Dieser Artikel ist zuerst in der Kolumne Freie Sicht im Debattenmagazin The European erschienen.