Schöne neue Welt

Die EU-Kommission plant eine Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung auf soziale Netzwerke[1],  EU-Forschungsprojekte befassen sich mit der möglichst lückenlosen Überwachung der europäischen Bürgerinnen und Bürger und nach dem Anschlag in Boston erschallt erneut der Ruf nach verstärkter Videoüberwachung.[2] Europa steuert sehenden Auges auf Orwells Vision des Überwachungsstaates zu. Im Zuge eines regelrechten Sicherheitswahns werden Bürgerrechte schrittweise außer Kraft gesetzt. Die Angst vor Terroranschlägen bereitet „Law and Order“-Politikern die Bühne und lässt Zweifler verstummen. Das Lobbying der „Sicherheitsindustrie“ tut ein Übriges, um uns immer mehr Überwachung durch immer ausgeklügeltere Techniken schmackhaft zu machen.

Im Zuge der bereits laufenden Vorratsdatenspeicherung wird jedes Telefongespräch registriert. Zwar wird (noch) nicht der Inhalt aufgenommen, aber wann wir wie lange mit wem telefonieren wird gespeichert, ebenso jede Seite, die wir im Internet aufrufen und jede Email, die wir versenden. Schon heute werden an manchen Orten Bilderkennungsprogramme eingesetzt, deren Algorithmen verdächtige Bewegungen aus dem Datenwust der Überwachungskameras herausfiltern sollen. Sie werden immer leistungsfähiger werden – auch gefördert durch die oben erwähnten Forschungsprojekte der EU: So ist das Ziel von Indect die vollautomatische Überwachung des öffentlichen Raums durch Kameras, auch solchen, die mittels Flugdrohnen herumschwirren. Deren Daten sollen mit jenen aus sozialen Netzwerken und den Mobilfunknetzen gekoppelt werden, um „unnatürliches Verhalten“ von Personen frühzeitig erkennen zu können.[3] In einer Stadt wie London, die schon heute über eine der höchsten Kameradichten der Welt verfügt[4], wird es in naher Zukunft möglich sein, einzelne Menschen unabhängig von deren Fortbewegungsart vollautomatisch durch die ganze Stadt zu verfolgen. Parallel zur geplanten lückenlosen Überwachung der realen Welt soll Clean.IT, ein weiteres EU-Forschungsprojekt, eine ebensolche der virtuellen Welt des Internet ermöglichen.[5]

Nahezu unbemerkt mutieren freie Bürger zu potentiellen Straftätern. Musste früher zunächst eine Straftat begangen werden, oder zumindest der Verdacht der Planung einer solchen bestehen, damit gegen mögliche Täter ermittelt werden konnte, wird heute präventiv gegen alle ermittelt. Jeder, der telefoniert, im Internet surft oder ins Sichtfeld einer Kamera gerät, könnte eine Straftat planen oder gerade begehen – so das Credo von Sicherheitsbehörden und Regierungen. Die durch die Verfassung geschützte Privatsphäre schrumpft zusammen auf die eigene Wohnung – bei zugezogenen Vorhängen und ohne elektronischen Außenkontakt.

Im Namen einer vermeintlichen Sicherheit werden unsere Bürgerrechte mehr und mehr eingeschränkt und unsere Verfassungen ausgehöhlt. So ist etwa die lückenlose Überwachung des öffentlichen, sowie von Teilen des privaten Raumes ein Angriff auf die Menschenwürde (Art. 1 GG), der unsere Freiheit (Art. 2) erheblich behindert – denn wer kann sich noch frei bewegen, wenn jede Bewegung aufgezeichnet wird? Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention gilt nur noch bedingt: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.“ Mit wem ich auf der Straße spazieren gehe oder im Gastgarten eines Cafés sitze, ist ebenso Teil meines Privatlebens wie die YouTube-Videos, die ich mir zu Hause am Computer ansehe; und Postings auf Facebook betrachte ich ebenso als Teil meiner Korrespondenz wie Emails und den guten alten Brief und es sollte niemanden etwas angehen, wann ich wie lange mit meinem Bruder telefoniere. (Die Aufzählung der Einschränkungen garantierter Freiheiten erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit!)

Vermeintliche Sicherheit wird von der europäischen Politik absolut gesetzt und auf allen Ebenen über die Freiheit des Einzelnen gestellt. Die Folge ist ein zunehmender Verlust von Freiheit, ohne dass dadurch tatsächlich mehr Sicherheit gewonnen wäre. Der Jubel über den schnellen Fahndungserfolg von Boston überdeckt die schlichte Tatsache, dass all die vielen Überwachungskameras den Anschlag nicht verhindern konnten. Potentielle Selbstmordattentäter werden sich von solchen Erfolgen kaum abschrecken lassen. Das ist auch all jenen bewusst, die als Konsequenz aus dem Anschlag wieder einmal (wie so oft) eine weitere Verschärfung der Überwachung fordern. Ein Teufelskreis, der die persönliche Freiheit immer weiter einschränken wird, wenn er nicht durchbrochen wird. Benjamin Franklin sagte im Jahr 1759: “Those who would give up Essential Liberty to purchase a little Temporary Safety deserve neither Liberty nor Safety.”[6]



[2]u.a. durch den deutschen Innenminister Hans-Peter Friedrich, siehe: Kurier vom 23. April 2013, S. 15: „Eine Millionen Videokameras im Einsatz“

[3]siehe: Ulla Kramar-Schmid und Michael Nikbakhsh, „Sichere Stimmen“, in: Profil Nr. 17 v. 22. April 2013, S. 38

[5]ebd.

[6] Benjamin Franklin (Hg.), An Historical Review of the Constitution and Government of Pennsylvania, 1759, als Motto auf dem Titelblatt