Toleranz

Eine Leseprobe aus dem Buch Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?, Wien, Passagen Verlag 2012 von Nina Scholz und mir, mit freundlicher Genehmigung des Passagen Verlags: Das Kapitel „Toleranz“.          (im Buch leider ohne Bilder)

Passagen

In der Folge der Anschläge vom 11. September 2001, die den Islam und das Leben in den islamischen Ländern vom bestenfalls randständigen Thema zum Tagesgespräch machten, ist über die Toleranz des Islam viel gestritten worden. Die einen werden der Wiederholung nicht müde, dass der Islam in Geschichte und Gegenwart eine tolerante und friedliche Religion gewesen sei, während die anderen im Islam und seinem heiligen Buch, dem Koran, den Inbegriff der Intoleranz sehen.

Der Begriff der „Toleranz“ hat im Laufe seiner Geschichte einen erheblichen Wandel erfahren. Im Zuge der Reformation, den ihr folgenden Glaubenskriegen im 16. und 17. Jahrhundert und der beginnenden Aufklärung, wurde der Begriff vom Lateinischen tolerare (= erdulden) ins Deutsche übernommen. Zunächst bedeutete Toleranz nur die Duldung Andersgläubiger als religiöse Minderheit durch die Mehrheit, beziehungsweise durch den Staat, der bis dahin nicht anders als religiös einheitlich vorstellbar gewesen war. Nach der Reformation galt diese Einheit nicht mehr auf Reichsebene, sondern nur noch auf der Ebene der Fürstentümer.[1]

Im Mittelalter war es Juden erlaubt, in einigen Städten zu siedeln; ihr Status war jedoch durch Sondergesetze festgelegt, die den päpstlichen Vorgaben folgten und sie als Fremdkörper in christlicher Umgebung markierten. Es war Papst Innozenz III., der die Ausgrenzung der Juden aus der christlichen Umwelt zur Perfektion trieb und den Juden den Weg ins Ghetto wies. Auf dem von ihm geleiteten IV. Laterankonzil wurde 1215 beschlossen, dass Christen keine Juden heiraten durften, dass Juden als Zeichen ihrer Stigmatisierung bestimmte Kleidung zu tragen hatten und zu bestimmten christlichen Festen (zum Beispiel in der Karwoche) nicht auf die Straße gehen durften.[2]

Ausländische Händler und Kaufleute erhielten in vielen Städten Privilegien, was in der Folge zu Handelsniederlassungen und temporär auch zu kleinen muslimischen Gemeinden osmanischer Kaufleute führte. Nach der Reformation war nun insofern eine neue Situation entstanden, als die Andersgläubigen plötzlich aus der Mitte der eigenen Gesellschaft kamen und nicht unbedingt eine Minderheit darstellten: Christen, die die päpstliche Oberhoheit ablehnten und Kirche und Glauben reformieren wollten. Die zunächst angestrebte geographische Trennung in rein katholische und rein protestantische Länder und Fürstentümer, verbunden mit dem seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 bestehenden Recht der Auswanderung in ein Fürstentum des je eigenen Glaubens, war auf Dauer nicht durchführbar.

In der Bedeutung, andere zu dulden, steht Toleranz für ein asymmetrisches Verhältnis, bei dem eine Mehrheit darauf verzichtet, der andersgläubigen Minderheit die eigene Überzeugung aufzuzwingen. Sie ist daher zunächst, wie es der Philosoph Rüdiger Bubner einmal bezeichnete, nur eine „negative Leistung des Verzichts auf Einspruch“,[3] und daher nichts anderes als eine „Erlaubnis-Konzeption“.[4] Diese Vorstellung von Toleranz fand ihren Niederschlag in zahlreichen sogenannten Toleranzedikten des 16. bis 18. Jahrhunderts, die, wenngleich sie eine Verbesserung zur früheren Situation darstellten, als „Duldungsedikte“ verstanden und bei Bedarf verändert oder revidiert werden konnten, ohne dass die zuvor tolerierte Minderheit dies hätte verhindern können. Nach 60 Jahren der Verfolgung etwa erließ Heinrich IV. von Frankreich im Jahre 1598 das Edikt von Nantes, das den Hugenotten Glaubens- und Gewissensfreiheit zusicherte. Ein knappes Jahrhundert später allerdings widerrief Ludwig XIV. dieses Edikt, was eine Massenflucht von Hugenotten in die Niederlande, die Schweiz und nach Preußen auslöste. Es ist diese bis ins 19. Jahrhundert verbreitete Auffassung von Toleranz, die Goethe scharf kritisierte, als er schrieb: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“[5]

In Europa begann die Auseinandersetzung um Glaubens- und Gewissensfreiheit bereits im Humanismus des ausgehenden 15. Jahrhunderts und bekam durch die Glaubenskriege neue Nahrung, bis in der Zeit der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts allmählich eine moderne Toleranzidee Gestalt annahm. Sowohl Humanismus als auch Reformation lösten einen Individualisierungsschub aus: Ersterer durch seine Idee menschlicher Freiheit und Würde, letztere durch die Betonung der religiösen Unmittelbarkeit des Einzelnen und seiner direkten Verantwortlichkeit gegenüber Gott.[6] Damit führten beide Strömungen zur Reduzierung des kirchlichen Einflusses auf weltliche Belange, nicht nur in protestantischen, sondern auch in katholischen Gebieten. Beispielhaft ist hier die Konföderation von Warschau von 1573.[7] Unter dem Schock der Massaker der Bartholomäusnacht[8], in deren Verlauf in Frankreich tausende Hugenotten ermordet worden waren, beschlossen die polnischen Adeligen ein weitreichendes Toleranzedikt, das über eine bloße Duldung hinausreichte und religiösen Minderheiten Glaubensfreiheit und politische Gleichstellung zusicherte. Ein der Bartholomäusnacht vergleichbares Blutvergießen sollte in Polen ausgeschlossen werden. Der polnische Adel beschloss die Konföderation im Vorfeld der anstehenden Königswahl und verpflichtete den neuen König auf die Garantie von Glaubens- und Gewissensfreiheit. Damit stellte sich der polnische Adel offen gegen die katholische Kirche.Medaille zur Erinnerung an die Konföderation

Eine ähnliche ideengeschichtliche Entwicklung, den hierzu nötigen selbständigen Adel oder ein freies, selbstbewusstes Bürgertum hat es im islamischen Kulturraum nicht gegeben. Toleranz im heutigen Sinne (als „Pflicht zur Anerkennung Anderer – als Individuen und als Gruppen – nach Maßgabe der Gleichheit“[9] beziehungsweise als Anerkennung des Rechts frei zu sein im Denken und im Glauben, das dem Individuum aufgrund seines Menschseins zukommt[10]) ist ein Konzept der Moderne, das dem Mittelalter und der Neuzeit unbekannt war.

Im Folgenden soll versucht werden, zwei wichtige Fragen in diesem Zusammenhang zu klären: Gab es in den islamischen Reichen eine Toleranz im Sinne von Duldung, und wie tolerant sind vom Islam geprägte Gesellschaften heute? Zur Beantwortung dieser Fragen reicht es nicht aus, die heiligen Schriften des Islam (Koran und Sunna) heranzuziehen, denn dort finden sich sowohl Verse, die sich als Beweis dafür, als auch solche, die sich dagegen anführen lassen. Die Behauptung, der Islam sei eine tolerante Religion, muss sich in Realität und Praxis überprüfen lassen; sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart. Auch die Inquisition lässt sich nicht mit einem Verweis auf das biblische Gebot der Nächstenliebe aus der Welt schaffen.

Toleranz in der islamischen Geschichte

Für die gesamte Zeit der arabischen Eroberungen und des arabischen Reichs, bis zur Machtübernahme durch die Abbasiden im Jahr 750, tut sich, angesichts des eklatanten Mangels an Quellen, für Historiker ein großes Problem auf. Es gibt keine außerislamischen schriftlichen Quellen oder archäologische Befunde, die von einer neuen – der islamischen – Religion sprechen. Die uns heute bekannten islamischen Quellen sind unter den Abbasiden, also mit großem zeitlichen Abstand zum darin behaupteten Ablauf der Geschichte, zumeist erst im 9. Jahrhundert zusammengestellt beziehungsweise angefertigt worden und stellen somit literarische Überlieferungen dar. Sie sagen mitunter mehr über die Zeit aus, in der sie verfasst wurden, als über jene, von der sie handeln. Das gilt sowohl für den Koran selbst (dessen älteste überlieferte Fragmente aus dem 8. Jahrhundert und dessen älteste erhaltene Exemplare aus dem 9. Jahrhundert stammen), als auch für die Hadithsammlungen und die erste erhaltene Mohammed-Biographie. Diese Quellen werden von gläubigen Muslimen als historisch unbestreitbare Fakten betrachtet. Die meisten Islamwissenschaftler folgen mangels anderer Quellen im Wesentlichen der islamischen Überlieferung. Andere – und hier besonders jüngere Forschungen – gehen davon aus, dass sich der Islam aus einer Linie des arabischen Christentums in einem über 150 Jahre dauernden Prozess schließlich zu einer eigenständigen Religion entwickelte. Außerislamische Quellen, etwa byzantinische oder armenische des 7. und 8. Jahrhunderts, sind zwar vorhanden und berichten auch von arabischen Kriegszügen und Eroberungen, eine neue Religion wird darin jedoch nicht erwähnt. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht liegen die Ereignisse um die Entstehung des Arabischen Reiches noch weitgehend im Dunkeln; die Existenz der in der islamischen Überlieferung genannten vier rechtgeleiteten Kalifen ist historisch nicht verbürgt. Erst mit den Umayyaden-Kalifen treten arabische Herrscher in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts ins Licht der Geschichte, allerdings geben uns die diesbezüglichen Quellen noch immer keine Auskunft über die Existenz einer neuen Religion.[11] Quellengestützte Aussagen über den Islam und seinen Umgang mit Andersgläubigen lassen sich daher frühestens für die Zeit der Abbasiden-Kalifen (zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts) treffen.

Islamgelehrte und religiöse Organisationen verweisen zur Untermauerung islamischer Toleranz in der Geschichte zumeist auf den sogenannten „Schutzvertrag“. Dieser habe Anhängern der Buchreligionen (Juden, Christen, Sabier und Zoroastrier) Glaubensfreiheit zugesichert und ihnen nach islamischem Recht den Status von Schutzbefohlenen (arab. Dhimmi) eingeräumt. Nach islamischer Überlieferung geht dieser Vertrag auf den zweiten Kalifen, Umar, zurück. Dieser habe 639 mit den Christen Jerusalems einen Pakt geschlossen, dem fortan Vorbildcharakter für den Umgang mit Andersgläubigen eingeräumt worden sei. Ob es diesen „Pakt von Umar“ gegeben hat, ist fraglich,[12] naheliegender scheint, dass die im arabischen Reich eingeführte Institution der Schutzbefohlenen auf außerislamische Vorbilder zurückgeht. Durch die nachträgliche Zuschreibung dieses Kodexes an den Kalifen Umar (einem der vier sogenannten rechtgeleiteten Kalifen, deren Handlungen für gläubige Sunniten paradigmatisch sind), erfuhr der Vertrag eine Sakralisierung und wurde Teil einer für nachahmenswert angesehenen Tradition islamischer Herrscher.

Die rasante Ausbreitung des arabischen Machtbereichs machte es mangels Erfahrung bei der Verwaltung eines derart großen Gebietes notwendig, auf vorhandene Verwaltungsstrukturen zurückzugreifen. Beispielgebend waren hier vor allem das Byzantinische und das Persische Reich. Byzanz verlor seine gesamten afrikanischen und östlichen Mittelmeergebiete an die Araber, und das sassanidische Persien wurde von ihnen zur Gänze okkupiert. In beiden Reichen hatte es vor dem Auftauchen der Araber eine ganz ähnliche Praxis gegenüber Andersgläubigen und ethnischen Minderheiten gegeben, die nun zur Vorlage arabischer Politik wurde. Armenier und Juden waren im Byzantinischen Reich ähnlich organisiert, wie nun als Dhimmi-Gruppen im Arabischen; gleiches hatte für die nestorianischen Christen unter den zoroastrischen Persern gegolten. Der Kulturwissenschaftler Siegfried Kohlhammer hat die Praxis der Dhimmi-Institution als „Variante zahlreicher vorgegebener Modelle imperialer Einbindung von religiös und kulturell heterogenen minoritären oder majoritären Bevölkerungsgruppen“ bezeichnet, „auf deren Wirtschaftskraft, Steuergelder und Expertise man nicht verzichten wollte und die deshalb vor der Tötung, Ausweisung oder Zwangsassimilation und – konversion bewahrt wurden.“[13]

Auch im mittelalterlichen christlichen Europa, und hier vor allem in den Handelsstädten, gab es jüdische und muslimische Bevölkerungsgruppen, die unter „Schutz“ gestellt wurden und ihrem Glauben und ihren Geschäften nachgehen konnten.[14] So erlaubte etwa der Normannenherrscher Roger I. nach der Eroberung Siziliens im Jahr 1091 den dort lebenden Muslimen die Beibehaltung ihres Glaubens und gliederte arabisch-muslimische Kontingente in sein Heer ein. Roger I.Eine solche Praxis gründete selbstverständlich nicht auf Toleranz, sondern trug allein praktischen Gründen Rechnung, wie der Sicherung und Konsolidierung von Macht, beziehungsweise dem Wunsch nach einem florierenden Handel. Roger I. zeigte sich in denjenigen Städten, die nur eine unbedeutende muslimische Minderheit aufwiesen, weitaus weniger großzügig und ließ Zwangstaufen vornehmen. Zugeständnisse an Andersgläubige wurden dort gemacht, wo man auf deren Kollaboration zwingend angewiesen war.[15] Nicht anders handelten die Araber und später auch die Osmanen.

Der sogenannte Schutzvertrag war, auch wenn er in der islamischen Literatur als solcher bezeichnet wird, kein Vertrag im eigentlichen Sinne, denn er beruhte nicht auf beiderseitiger Freiwilligkeit, hing doch das Leben jedes einzelnen Andersgläubigen von der Zustimmung ab. Es handelte sich mithin um ein Angebot, das nicht abgelehnt werden konnte.[16] Die mit dem islamischen „Schutzvertrag“ verbundenen Regelungen boten Juden und Christen zwar eine gewisse Sicherheit in Bezug auf Leben, Eigentum und Religion, diese musste allerdings mit einer Sondersteuer, der sogenannten Dschizya (Kopfsteuer/Tribut), erkauft werden. Erst mit dieser Zahlung wurde der „Vertrag“ gültig. Der Dhimmi zahlte also den neuen Herrschern dafür, dass er nicht vertrieben oder ermordet wurde – eine klassische Form der Schutzgeldzahlung.[17] Diese Steuer, die bis ins 19. Jahrhundert hinein in islamischen Ländern erhoben wurde, gehörte über Jahrhunderte hinweg zu den wichtigsten Einnahmequellen islamischer Herrscher. Das mag auch erklären, warum viele Machthaber nicht unbedingt an einer Konversion der andersgläubigen Untertanen interessiert waren – im Gegensatz zu den Rechtsgelehrten, die eher geneigt waren, dem Übertritt zum Islam Priorität einzuräumen.

Dass der „Schutzvertrag“ mit Toleranz im modernen Sinne wenig zu tun hatte, ergibt sich aus seinen einzelnen Bestimmungen des „Vertrages“, die einen dezidiert demütigenden Charakter hatten. Schon die Zahlung der Kopfsteuer war ein Akt der Unterwerfung und Demütigung. Sie wurde mit dem Koran, Sure 9,29[18], begründet, in der es heißt: „Kämpfet gegen diejenigen, die nicht an Gott und den jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben, und nicht der wahren Religion angehören – von denen, die die Schrift erhalten haben – kämpft gegen sie, bis sie kleinlaut aus der Hand Tribut entrichten.“ Mahmud ibn Umar al-Zamachschari (1075-1144), der einen Standardkommentar zum Koran verfasste, deutete diese Stelle als Aufforderung, den Tribut auf eine erniedrigende Art und Weise einzutreiben. Der hanbalitische Rechtsgelehrte Ibn al-Naqqash rechtfertigt im 15. Jahrhundert die demütigende Behandlung der „Ungläubigen“ und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass diese gerade dadurch zum Islam finden und so von ihrem „schmählichen Joch“ erlöst werden würden.[19]

Juden und Christen unterlagen besonderen Kleidervorschriften und durften nur auf Eseln reiten. Ihre Häuser mussten niedriger sein als die ihrer muslimischen Nachbarn. Viele Vorschriften des „Schutzvertrages“ waren Benimmregeln – eine Art Knigge für Dhimmis – die darauf hinausliefen, jedem einzelnen Muslim Achtung und Respekt erweisen zu müssen. So sollten Dhimmis bei Bedarf Muslimen den Sitzplatz überlassen, hatten als erste zu grüßen, mussten auf der Straße ausweichen und ähnliches. In Aufzeichnungen von Reisenden, beziehungsweise Abgesandten aus europäischen Ländern finden sich anschauliche Schilderungen von diesen alltäglichen Demütigungen. So schrieb der englische Reisende George Beauclerk im Jahr 1828, dass Kinder in Marokko Juden auf der Straße mit Steinen bewürfen und sie bespuckten, während diese es nicht wagten, sich zur Wehr zu setzen. Einen Muslim zu schlagen bedeute, das Leben aufs Spiel zu setzen.[20] Die bis heute unkritische islamische Geschichtsschreibung rechtfertigt die Einhebung der Sondersteuer, indem sie behauptet, Dhimmis wären zum Ausgleich dazu nicht zum Militärdienst verpflichtet gewesen.[21] Laut „Schutzvertrag“ war es ihnen jedoch generell untersagt, Waffen zu tragen. Wie in vielen anderen Kulturen, so war es auch im Islam nur freien – und das hieß in diesem Fall muslimischen – Männern erlaubt, eine Waffe zu tragen. Zum anderen sollte auf diesem Weg jeder Widerstand von vorneherein auszugeschlossen werden.

Im Osmanischen Reich wurde die Dhimmi-Frage über das sogenannte Milletsystem geregelt: Religionsgemeinschaften wurden wie eigene Nationen innerhalb des Osmanischen Reiches behandelt und als Millet bezeichnet. So gab es etwa das Millet der Juden, das Millet der griechisch-orthodoxen und das der armenisch-apostolischen Christen. Gemäß dem „Schutzvertrag“ wurde ihnen Glaubens- und Rechtsautonomie im Familien- und Privatrecht zugestanden. Nach außen waren die Mitglieder der Millets jedoch, ebenso wie unter arabischer Herrschaft, als Dhimmis den Muslimen rechtlich untergeordnet. Da Christen die Mehrheitsbevölkerung in weiten Teilen des Osmanischen Reiches stellten, ist die oft verwendete Bezeichnung des Milletsystems als Minderheitenrecht etwas irreführend. Große Teile der anatolischen Westküste, des am dichtesten besiedelten anatolischen Gebietes, und südöstlicher Gebiete waren beispielsweise bis zur Vertreibung und Ermordung der Armenier und Assyrer und dem „Bevölkerungsaustausch“ mit Griechenland in Folge des Vertrages von Lausanne 1923, überwiegend christlich.

Christen, Juden und persische Zoroaster hatten innerhalb ihrer Gemeinden weitgehende Gerichtshoheit; Auseinandersetzungen mit Muslimen fielen jedoch in die Zuständigkeit islamischer Gerichte. Vor diesen wiederum hatten Dhimmis kein Zeugnisrecht und somit auch keine Möglichkeit, sich angemessen zu verteidigen. Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel hat darauf hingewiesen, dass nach islamischen Recht nur Muslime uneingeschränkt rechtsfähig sind: „Hieraus folgt, dass Andersgläubige, auch wenn sie auf Dauer auf dem Gebiet eines islamischen Gemeinwesens leben, niemals im vollen Sinne Rechtsgenossen der Muslime sein können.“[22] Gelang es ihnen nicht, muslimische Zeugen zu kaufen – wovon oft berichtet wird – und gegebenenfalls auch noch den Richter zu bestechen,[23] zogen sie zwangsläufig den Kürzeren. Besonders gravierend konnten die Folgen einer Anzeige wegen Blasphemie sein, weil dieses „Vergehen“ mit dem Tod bestraft wurde. Eine Gesetzgebung, die ganze Bevölkerungsgruppen diskriminiert, indem sie ihnen Rechte vorenthält, öffnet, wie die Schaffung von Sondergesetzen überhaupt, dem Denunziantentum Tür und Tor. Leicht vorzustellen, wie groß die Versuchung war, Nachbarschaftskonflikte und Streitigkeiten mit Christen oder Juden durch Anzeigen wegen „Beleidigung des Islam“ ein für alle Mal zu lösen.

Es liegt auf der Hand, dass viele in der Konversion einen Ausweg aus diesem Dilemma sahen. Somit war das Gerichtswesen auch ein Mittel der „Bekehrung“.[24] Die Bestimmung, das Zeugnis eines Nicht-Muslims vor Gericht nicht zuzulassen, war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der gesamten islamischen Hemisphäre bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gültig. In einem Brief des britischen Vizekonsuls in Bosnien heißt es noch 1877: „Der derzeitige Quadi von Travnik lehnt vor Gericht hartnäckig jegliches Zeugnis von Christen ab, und obwohl die muslimischen Zeugen ja immer für Geld empfänglich sind, kann man, da solche Praktiken herrschen, außer einem Justizirrtum nichts erwarten.“[25]

Das Islamische Recht kennt die Möglichkeit der Reue. Todesstrafen bei Apostasie und Blasphemie mussten nicht vollstreckt werden, wenn der vom Glauben abgefallene Muslim „reumütig den Weg zum Islam zurückfindet.“[26] Ist der Beschuldigte Christ oder Jude, muss er zunächst zum Islam konvertieren, um ein Zeugnisrecht vor Gericht zu erlangen. Da er mit der Konversion zugleich unter Beweis gestellt hat, dass er seinem alten Glauben abgeschworen, sich dem Islam unterworfen und seine „blasphemische Handlung“ bereut hat, wurde die Strafe üblicherweise aufgehoben.[27]

Auf Druck verschiedener Staaten sah sich das Osmanische Reich 1839 gezwungen, seine Rechtsprechung zu reformieren, und nun auch die Aussage von Juden und Christen vor Gericht anzuerkennen. Die Umsetzung der Maßnahmen verlief jedoch sehr zögerlich, weil viele islamische Rechtsgelehrte sie als unvereinbar mit der Scharia ansahen. Gegen die osmanischen Reformen, die zu einer rechtlichen Gleichstellung aller Bürger führen und auch die diskriminierende Kopfsteuer abschaffen sollten, regte sich neben dem Widerstand der Rechtsgelehrten auch Unmut in Teilen der Bevölkerung, die die Abschaffung der Dhimmi-Gesetze als Verstoß gegen die von Gott geschaffene Ordnung und damit auch gegen ihre Privilegien betrachteten – eine Haltung, die nach Jahrhunderten der Gewohnheit nicht verwundert. In Gebieten des Osmanischen Reiches, vor allem an seinen Rändern, wo der einst starke Arm des Sultans schon seit längerem Schwäche zeigte, kam es zu mehreren Aufständen gegen die geplante Gleichstellung von Juden und Christen, wie etwa 1860 im Maghreb, in Palästina, Syrien und dem Libanon. In ihrem Verlauf wurden, einem Memorandum des britischen Generalkonsuls in Konstantinopel, Sir Philip Francis, zufolge, allein in Syrien und dem Libanon ca. 20.000 Christen ermordet.[28] In Ägypten verlief die Umsetzung der Gesetze relativ reibungslos. Der dortige osmanische Vizekönig Muhammad Ali war ein reformfreudiger Mann, der den Anschluss an die europäische Moderne suchte und das Land am Nil bereits in den Jahrzehnten zuvor schrittweise modernisiert hatte, allerdings mit eiserner Hand.

Der „Schutzvertrag“ garantierte den Dhimmis zwar einen gewissen Eigentumsschutz und das Recht auf Religionsausübung, aber auch dieses war eingeschränkt. Überall dort, wo sich die Herrschaft des Islam durchsetzte, mussten Juden und Christen den Großteil ihrer Synagogen und Kirchen an die neuen Herren abtreten. Angesichts der Tatsache, dass Muslime in den Jahrhunderten nach der arabischen und später auch der osmanischen Eroberung noch immer eine Minderheit waren und der Moscheebedarf entsprechend klein, hatte diese Maßnahme ausschließlich demonstrativen und, mit der Etablierung des islamischen Kultes in wichtigen Kirchen wie beispielsweise der Hagia Sophia in Konstantinopel, vor allem Symbolcharakter. Weniger bedeutende Kirchen und Synagogen wurden als Steinbrüche verwendet oder verfielen.

Die Aufhebung des „Schutzvertrages“ und die Gleichstellung von Andersgläubigen war nicht das Resultat einer innergesellschaftlichen Debatte, denn es gab keine gesellschaftlich relevanten Gruppen, die sie gefordert hätten. Das Osmanische Reich schaffte die diskriminierenden Bestimmungen gegenüber Christen und Juden erst ab, als es wirtschaftlich und militärisch auf Hilfe europäischer Mächte angewiesen war und daher Zugeständnisse machen musste. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Sklaverei, die auf Druck Großbritanniens 1857 offiziell abgeschafft wurde, mit Ausnahme der damals zum Osmanischen Reich gehörenden arabischen Halbinsel, wo sie noch bis 1964 (!) erlaubt war.

Die Durchsetzung der Bestimmungen des Dhimmi-Vertrags war abhängig vom Glaubenseifer des jeweiligen Herrschers und variierte je nach Ort und Zeit. So war es um 1655 herum Christen in Smyrna (Izmir), die dort die Bevölkerungsmehrheit stellten, durchaus erlaubt, Prozessionen durchzuführen, während zur gleichen Zeit auf Zypern damit begonnen wurde, auch die wenigen noch verbliebenen Kirchen in Moscheen umzuwandeln. Noch im Jahre 1855 wurde die Restaurierung einer Synagoge in Jerusalem erlaubt, eine beantragte Vergrößerung und Verschönerung jedoch nicht.[29]

Der „Schutzvertrag“ untersagte Juden und Christen jegliche Machtposition im islamischen Gebiet. Wer Ambitionen verspürte, in die Gesellschaft aufzusteigen, musste Muslim werden. Aus dem muslimischen Spanien ist uns ein drastisches Beispiel dafür überliefert, was ein Verstoß gegen dieses Verbot auslösen konnte. Schmuel ha-Nagid wurde, obgleich Jude, Großwesir im Königreich Granada, was auf seine Freundschaft zum Herrscher zurückging. Als der König verstarb, verhalf er dessen ältestem Sohn auf den Thron und blieb im Amt des Wesirs. Nach seinem eigenen Tod erbte sein Sohn, Joseph ibn Naghrela, ebenfalls jüdischen Glaubens, die Wesirwürde. Nun eskalierte die Situation. Am 30. Dezember 1066 stürmte eine fanatisierte Menschenmenge den Palast, kreuzigte den Wesir und zog anschließend durch das jüdische Viertel Granadas. Fast 4000 Menschen, beinahe die gesamte jüdische Gemeinde, musste mit dem Leben dafür bezahlen, dass ein Jude es gewagt hatte, die zweithöchste Position im Staate einzunehmen – der älteste bekannt gewordene Pogrom auf europäischem Boden. Der „Schutzvertrag“ stellte nicht den einzelnen Dhimmi unter Schutz, sondern die Gemeinde als Ganze, dementsprechend wurde bei einem „Vertragsbruch“ auch die gesamte Gemeinde bestraft.

Der jüdische Reisende Josef Israel Benjamin besuchte Mitte des 19. Jahrhunderts Persien und beschrieb die Situation der dort lebenden Juden. Seinen Ausführungen zufolge war es ihnen unter anderem untersagt, in einem Geschäft die Waren zur Begutachtung in die Hand zu nehmen; wenn sie es taten, mussten sie sie zu jedem verlangten Preis kaufen. Sie durften ihre Häuser nicht verlassen wenn es regnete, denn weil sie im religiösen Sinne als „unrein“ galten, hätte der Regen ihren Schmutz abwaschen und Muslime damit in Kontakt bringen können. Diese extreme dualistische Sicht, mit ihrer Aufteilung der Welt in „rein“ und „unrein“, ist vor allem im Schiitismus zu finden. Hier scheinen die strengen zoroastrischen Reinheitsvorstellungen auf die Ausprägung des Islam eingewirkt zu haben. Noch Khomeini nannte in seinem Leitfaden für Muslime unter den elf Dingen, die unrein machen, an achter Stelle die „Ungläubigen“.[30] Es versteht sich von selbst, dass Andersgläubige im islamischen Herrschaftsbereich nicht missionieren durften; entsprechende Bestimmungen haben sich bis heute gehalten.[31]

Seit dem Mittelalter entwickelte sich ein umfangreiches Schrifttum, das mit Polemiken und Schmähschriften die systematische Abwertung von Christen und Juden betrieb. Die Bezeichnungen „Affen“ (für Juden) und „Schweine“ (für Christen) sind die darin gängigen Stereotypen,[32] die von fundamentalistischen Strömungen des Islam bis heute verbreitet werden und über Satellitensender, Internet, Schulbücher und Printmedien ihren Weg auch in die muslimischen Communities Europas finden.

Der Koran verbietet Zwangsbekehrungen, aber der „Schutzvertrag“ machte es Andersgläubigen schwer, im eigenen Glauben zu verbleiben. Zu den „Ungläubigen“ zu gehören bedeutete vor allem Ungleichheit und Unterlegenheit, es bedeutete Diskriminierung und immer wieder auch Verfolgung. Die Konversion zum Islam hingegen versprach Zugehörigkeit und bessere Chancen für die Nachkommen.

Buddhisten, Hinduisten oder Animisten, die unter islamische Herrschaft gerieten, waren in einer wesentlich schlechteren Lage. Da sie nicht zu den geduldeten Buchreligionen gehörten, standen sie vor der Alternative Zwangsbekehrung oder Tod beziehungsweise Sklaverei.[33] Mit der Ausbreitung des Islam wurde in der Regel die gesamte religiöse Infrastruktur dieser Religionen nachhaltig zerstört.[34] Die Sprengung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban im März 2001 war nur der jüngste Ausdruck einer Aggression, an deren Anfang die Auslöschung buddhistischer Gemeinden und Heiligtümer in Asien stand, darunter das damalige geistige Zentrum der buddhistischen Welt, die Universitäts- und Klosterstadt Nalanda in der Provinz Bihar in Indien im Jahr 1202.[35]NalandaAuch Christen und Juden fielen von Zeit zu Zeit Zwangsbekehrungen durch religiös eifernde Herrscher zum Opfer. So wurden etwa im Jahre 1058 die griechischen und armenischen Einwohner Antiochias unter Folter zum Islam gezwungen,[36] und der Almohaden-Kalif Abd al Mumin „bot“ den Christen und Juden in Tunis 1159 den Islam an; „wer Muslim wurde, blieb unbehelligt, wer sich weigerte, wurde getötet“, berichtet der muslimische Historiker Ibn al-Athir (1160-1233).[37]

Pogrome gegen Juden sind vom Hochmittelalter bis in die jüngere Geschichte belegt. 1033 fielen in Fez 6000 Juden einem Pogrom zum Opfer. Nach dem bereits erwähnten Massaker von Granada 1066 kam es in der Stadt im Jahre 1090 neuerlich zum Pogrom gegen die gerade wieder angewachsene jüdische Gemeinde. 1465 breitete sich von Fez eine Pogromwelle durch den ganzen Maghreb aus, an deren Ende das Judentum dort fast vollständig vernichtet war. Einer der letzten antijüdischen Pogrome Nordafrikas fand 1945 in Tripolis statt. Unter den Augen der britischen Besatzer wurden in drei Tagen mehr als 140 Juden ermordet und neun Synagogen zerstört.[38]

Als Beispiel für einen toleranten Islam wird immer wieder al-Andalus ins Feld geführt, der einst muslimische Teil der Iberischen Halbinsel. Während dieser achthundert Jahre dauernden, maurischen Epoche hätten, unter dem Schutz und Patronat eines aufgeschlossenen und konzilianten Islam, die drei monotheistischen Religionen in friedlicher Koexistenz miteinander gelebt. Dieser Mythos hat seinen Ursprung im Europa der Aufklärung. Auf der Suche nach Vorbildern für die eigenen Vorstellungen von menschlicher Vernunft, Bildung und Wissenschaft, sowie der Idee von religiöser Toleranz blickte man in die Vergangenheit und über den Rand des intoleranten Christentums hinaus. Al-Andalus wurde zum Sehnsuchtsort, in dem Toleranz und Harmonie unter den Religionen, wie in Lessings Ringparabel idealisiert, Wirklichkeit gewesen sei. Das lokalisierte Ideal der Aufklärer hatte dabei insofern einen historisch wahren Kern, als es in al-Andalus für kurze Zeit tatsächlich eine – für damalige Verhältnisse – weltoffene, wissenschaftsfreundliche und kulturell produktive Phase gab. Al-Andalus war ein Gebiet am äußersten Rand der islamischen Welt, stand in Opposition zum Kalifat in Bagdad und verbrachte einen großen Teil seiner Geschichte in Gegnerschaft zur restlichen islamischen Welt. Eine im Vergleich mit dem Europa jener Zeit tolerante Periode von etwa 50 Jahren begann, als Abd ar-Rahman III. im Jahre 929 das Kalifat von Cordoba ausrief. Durch seinen Anspruch auf den Kalifentitel und damit die Nachfolge des Propheten und die Herrschaft über alle Gläubigen (Kalif, vom arabischen Chalifa = Nachfolger/Stellvertreter) zog er sich die Feindschaft des Kalifen von Bagdad zu. Abd ar-Rahman III. leitete eine Modernisierung seines Reiches ein, indem er Techniker, Wissenschaftler und Künstler aus der islamischen wie nicht-islamischen Welt – Christen, Juden und Muslime – in sein Kalifat rief. Durch diese Öffnung gelang es ihm innerhalb kürzester Zeit, Cordoba neben Konstantinopel und Bagdad zu einem der bedeutendsten Wirtschafts- und Kulturzentren der damals bekannten Welt zu machen. Sein Sohn und Nachfolger al-Hakam II., selbst ein Gelehrter ersten Ranges, setzte diese Politik fort und baute eine der größten Bibliotheken der damaligen Zeit auf. Diese kurze Blütezeit endete mit dem Tod al-Hakams, begründete jedoch einen Mythos, der in der europäischen Aufklärung auf alle Gebiete und die gesamte Zeit des muslimischen Spaniens übertragen wurde, um später auch von der islamischen Geschichtsschreibung aufgegriffen zu werden. Tatsächlich jedoch mutet die Vorstellung einer über fast 800 Jahre hinweg andauernden friedlichen und toleranten Herrschaft und eines ebensolchen Zusammenlebens der Menschen untereinander etwas realitätsfern an und widerspricht jeder historischen Erfahrung, insbesondere, wenn sich ein Gebiet einer ständigen äußeren Gefährdung gegenüber sieht, wie das bei den islamischen Reichen in Spanien der Fall war. In solchen Situationen neigt Herrschaft gewöhnlich zur Repression nach innen und nicht zur Toleranz.

Die Nachfolger al-Hakams II. bereiteten dem Aufbruch Cordobas alsbald ein Ende. Bereits sein unmittelbarer Nachfolger, Almansur,[39] ließ die kostbare Bibliothek und mit ihr die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen al-Hakams unter dem Beifall islamischer Rechtsgelehrten und des Volkes wieder zerstören.[40] War es bereits vor den goldenen Jahrzehnten immer wieder zu antijüdischen und antichristlichen Pogromen gekommen,[41] nahmen die Repressionen nun erneut zu. Die 1091 aus Nordafrika eindringenden strenggläubigen Almoraviden und die ihnen 1130 folgenden (für ihren Fanatismus bekannten) Almohaden verwandelten Nordafrika und al-Andalus in einen Schauplatz von Zwangskonversionen, Vertreibungen und Massakern, die der Präsenz von Juden und Christen ein vorübergehendes Ende bereiteten.[42] Die der städtischen Kultur al-Andalus‘ abgeneigten und der Orthodoxie zugeneigten Berber vertrieben weite Teile der intellektuellen Elite, darunter auch den berühmten islamischen Philosophen ibn-Ruschd (Averroes) und den jüdischen Philosophen ibn-Maimun, bekannt als Maimonides.ibn Rushd

Zu dieser Zeit gelang es den Christen Nordspaniens, Gebiete zurückzuerobern; unter anderem Toledo. Die christlichen Fürsten waren daran interessiert, die muslimische Bevölkerung zu halten, und die vor den Almohaden aus dem Süden geflüchteten Juden aufzunehmen und zeigten sich daher vergleichsweise tolerant. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fanden sich die zahlenmäßig jeweils größten jüdischen und muslimischen Gemeinden des christlichen Europas im Norden Spaniens. Die Kreuzritter, die Ferdinand III. 1248 bei der Eroberung Sevillas unterstützt hatten, zeigten sich konsterniert darüber, dass Ferdinand sowohl Juden als auch Muslimen Stadtrechte gewährte und den Bau von Kulthäusern erlaubte. Ferdinands hoch gebildeter Sohn Alfons X. – Verfasser von Gedichten und wissenschaftlichen Werken – war ein Bewunderer der arabischen Wissenschaften, gründete in Toledo Übersetzerschulen und nahm von der islamischen Orthodoxie verfolgte und vertriebene Intellektuelle und Wissenschaftler an seinem Hof auf. Gleichzeitig führte er als überzeugter Anhänger der Reconquista Kreuzzüge gegen die noch verbliebenen islamischen Gebiete. Die antijüdische Politik der Päpste des 13. Jahrhunderts beeinflusste schließlich auch Spanien immer mehr und entlud sich ab dem 14. Jahrhundert in zahlreichen Pogromen, die 1392 in Sevilla ihren Höhepunkt erreichten.[43]

In den beiden Jahrhunderten nach der Almohadenherrschaft wuchs die jüdische Gemeinde im muslimischen al-Andalus wieder an, bevor sie 1492 neuerlich vertrieben wurde: Diesmal von den christlichen Herrschern Spaniens, König Ferdinand II. und Königin Isabella I., die die Reconquista erfolgreich abgeschlossen hatten. Der Glaubenseifer des katholischen Königspaares richtete sich zuvorderst gegen die Juden; die verbliebenen Muslime wurden zunächst geduldet, bis auch sie nach einem weiteren Jahrzehnt vertrieben werden sollten. 1609 ließ Philipp III. selbst noch die Nachkommen der längst zum Christentum konvertierten Araber vertreiben.

Die Geschichte vom einzigartig toleranten, muslimischen al-Andalus und seinem intoleranten christlichen Widerpart ist ein Mythos, der der historischen Überprüfung nicht standhält. Im 20. Jahrhundert erhielt dieser Mythos auch in Spanien neue Nahrung, begründet durch die Opposition gegen Franco, der eine Art Reconquista-Politik für ein christliches Spanien propagierte. Für Antifaschisten und Intellektuelle war es geradezu selbstverständlich, die Gegenposition einzunehmen und dabei die Verfolgung von Juden und Muslimen im christlichen Spanien hervorzuheben, was zweifelsohne als Verdienst gewertet werden kann. Weniger verdienstvoll war die gleichzeitige Verklärung muslimischer Herrschaft in Spanien.[44]

In der Realität hing das Schicksal religiöser Minderheiten in christlichen wie muslimischen Gebieten von der persönlichen Disposition und den politischen Interessen der jeweiligen Herrscher ab und ähnelte auf beiden Seiten einer Pendelbewegung zwischen Duldung und Verfolgung.[45] Hier wie dort fanden sich Herrscher bereit, Vertriebene aufzunehmen. Juden fanden etwa in christlichen Ländern wie Polen, Litauen und Savoyen eine neue Bleibe; ein beträchtlicher Teil der 1492 vertriebenen spanischen Juden im Osmanischen Reich, ein anderer Teil von ihnen in Venedig und Florenz. Ihre Aufnahme wurde jedoch in keinem Fall vom Gedanken des Mitleids oder der Toleranz geleitet, sondern von wirtschaftlichen und manchmal auch demographischen Erwägungen. Sie wurden wegen ihrer handwerklichen Fähigkeiten und ihrer Kenntnisse im Handel als nützlich betrachtet. Sultan Bayezid II. nahm die spanischen Juden vor allem deswegen auf, weil die Wiederbesiedelung Konstantinopels 40 Jahre nach der Einnahme durch die Osmanen nach wie vor ein ungelöstes Problem darstellte. 1453 war ein Großteil der christlichen Bevölkerung während der Eroberung entweder getötet worden oder geflohen, und mehrere Pestwellen hatten sämtliche Bemühungen, die neue Hauptstadt durch Zwangsansiedlung aus eroberten Gebieten oder Einladungen zur Ansiedlung zu beleben, zunichte gemacht. Hier kamen einige tausend spanische Juden, denen noch dazu ein Ruf als tüchtige Handwerker vorauseilte, gerade recht.[46] Wenige Jahre zuvor noch hatte derselbe Sultan die christlichen und jüdischen Beamten seiner Administration verjagt, die strenge Einhaltung der Dhimmi-Bestimmungen befohlen und eine Reihe von Synagogen schließen lassen.[47]

Ähnlich wie im islamisch beherrschten Teil Spaniens konnten sich auch in der übrigen islamischen Welt aufgeschlossene Herrscher nicht dauerhaft durchsetzen und eine mehr als episodische wissenschaftliche und philosophische Entwicklung einleiten. Zu stark waren die restaurativen Strömungen, die letztlich immer wieder die Oberhand gewannen.

Ulugh Beg, der Enkel des Mongolenherrschers Timur Lenk, war einer der herausragenden islamischen Herrscher in Zentralasien, der seine Hauptstadt Samarkand in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Wissenschaftszentrum ausbaute. Das unter ihm errichtete Observatorium, ein gigantischer Rundbau, zog Forscher aus aller Welt an. Ulugh Beg hatte in den Islamgelehrten von Beginn an starke Feinde und nach seiner Ermordung 1449 wurde das Observatorium zerstört und geplündert. Einige astronomische Arbeiten und Gegenstände gelangten mit flüchtenden Wissenschaftlern nach Tabriz und tauchten bald darauf auch im Abendland auf, wo sie aufgenommen und weiterentwickelt wurden.[48] SamarkandDie Toleranz eines Machthabers in Bezug auf wissenschaftliche Forschung kann nicht umstandslos als allgemeine Toleranz gelesen werden. Ein Herrscher konnte durchaus Wissenschaftler, Philosophen oder Künstler an den Hof holen und gleichzeitig seine christlichen und jüdischen Untertanen verfolgen.

Ein besonderes Beispiel für einen toleranten islamischen Herrscher ist der indische Großmogul Jalaluddin Muhammad Akbar im 16. Jahrhunderts. Im Dialog mit sämtlichen Glaubensrichtungen schaffte er die Sondersteuer für Nichtmuslime ab und verfügte, dass jeder zu der Religion wechseln dürfe, die ihm gefalle.[49]AkbarIm Osmanischen Reich prägten zwei Besonderheiten den Umgang mit andersgläubigen Gruppen: Der in der Literatur als Knabenlese (türk.: Devşirme=Sammlung) beschriebene Raub christlicher Kinder, und die häufigen Zwangsumsiedelungen. Jahr für Jahr wurde aus wechselnden Provinzen der eroberten europäischen Gebiete, hauptsächlich vom Balkan und aus Griechenland, ein bestimmter Prozentsatz männlicher Kinder für den Sultan geraubt. Sie wurden zu Muslimen erzogen und nach entsprechender Ausbildung entweder in der Verwaltung des Reiches eingesetzt oder im Janitscharenkorps, der Eliteeinheit des Sultans, die bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ausschließlich auf geraubte Knaben zurückgriff. Die „Knabenlese“ wurde im späten 14. Jahrhundert eingeführt und existierte über drei Jahrhunderte hinweg bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein. Dieser Brauch entstand aus dem Bedürfnis des Sultans, über eine Elitetruppe von Männern zu verfügen, deren Loyalität weder einer Familie noch einem Stamm gehörte, sondern ihm allein. Eine nicht unerhebliche Anzahl osmanischer Wesire entstammte der „Knabenlese“, die überwältigende Mehrheit der Geraubten jedoch wurde auf allen erdenklichen Verwaltungsposten eingesetzt. Die Zahl der Betroffenen lässt sich nur schätzen: Wenn man davon ausgeht, dass die Janitscharen in der Regel 10 Jahre aktiven Militärdienst leisteten und man die Verluste durch die häufigen Kriege mit einbezieht, sind nach derzeitigem Forschungsstand etwa zwei Millionen Jungen versklavt worden. Der Historiker David Stacton geht – inklusive der für den Staatsdienst benötigten – von insgesamt fünf Millionen geraubten Christenkindern aus.[50]

Eine Gesellschaft, die es über Jahrhunderte hinweg als ihr selbstverständliches Recht betrachtete, Kinder der andersgläubigen Bevölkerung zu verschleppen und diese für den Islam in Dienst zu nehmen, kann selbst nach damaligen Maßstäben und im Vergleich mit anderen Ländern dieser Zeit schwerlich als tolerant bezeichnet werden. Bis zum heutigen Tag hat kein einziger türkischer Präsident es für notwendig erachtet, sich bei den betroffenen Ländern zu entschuldigen. Gleiches gilt für die Haremssklaverei, für die abertausende Frauen aus den eroberten Gebieten in die Privathäuser der Oberschicht verschleppt wurden, für die Sklaverei allgemein und für die Politik der Zwangsumsiedelungen nicht-muslimischer Untertanen. Nach den Eroberungen Belgrads (1521) und Budas (1524) etwa wurde eine nicht zu beziffernde Anzahl von Menschen in die zentralen Städte des Reiches (Istanbul, Edirne, Izmir) zwangsumgesiedelt, weil dort Bedarf an Menschen bestand.[51]

Islam und Toleranz heute

Der Mangel an Toleranz kennzeichnet auch heute nicht nur die Regierungen, sondern auch das zwischenmenschliche Leben in den meisten Ländern der islamischen Welt. Intoleranz trifft dabei sowohl Juden und Christen als auch Muslime, deren Bekenntnis der offiziellen Auslegung des Islam des jeweiligen Landes widerspricht oder deren Lebensstil nicht den Vorgaben der Sittenwächter entspricht. Religiöse Dominanz und religiöse Bevormundung stellen eine wesentliche Behinderung für die Entwicklung sämtlicher Bereiche der Gesellschaft dar. Der frühere pakistanische Justizminister Allah Bukhsh K. Brohi beschreibt dieses Problem für den Bereich der Rechtswissenschaften:

In der islamischen Welt muss sich die Forschung auf dem Gebiet des Rechts auch gegen die Intoleranz der sogenannten Ulama [die Religionsgelehrten; Anm. d. Verf.] durchsetzen, die sich selbst für die Bewahrer des Glaubens halten und, was noch schlimmer ist, im Falle der allergeringsten möglichen Abweichung, die in den Schriften selbst akademisch gebildeter Autoren zum Thema Recht und gesetzliche Institutionen wahrnehmbar sein könnte, sich dazu berufen fühlen, die dafür verantwortlichen Schriftsteller als Häretiker zu brandmarken. Das Ergebnis ist, dass es kaum nennenswerte Beiträge zur Literatur des Islam aus der Feder von Denkern in Muslim-Ländern gibt.[52]

In Albanien, wo sich 70% der Bevölkerung zum sunnitischen Islam bekennen und in Bosnien und Herzegowina, wo das knapp die Hälfte der Bevölkerung tut, gestaltet sich das Zusammenleben zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften weitgehend friedlich, wenngleich Saudi-Arabien mit Ölgeldern versucht, Einfluss zu gewinnen und die besonders intolerante salafistische Strömung auf dem Balkan zu etablieren. In Saudi-Arabien selbst, wo alle Religionen außer dem herrschenden sunnitischen Islam verboten sind, werden Schiiten offen diskriminiert und ihre Lehre als „jüdische Verschwörung“ betrachtet.[53] Millionen von Gastarbeitern können ihre Religion bestenfalls heimlich in den Wohnunterkünften ausüben, Juden, ganz gleich aus welchem Land kommend, wird die Einreise verwehrt.

In Indonesien finden fundamentalistische Strömungen in den letzten Jahrzehnten Zuspruch in Teilen der Bevölkerung, was eine vermehrte Intoleranz gegenüber anderen Religionsgemeinschaften zur Folge hat. Der Bau von Kirchen ist zwar administrativ dem Bau von Moscheen gleichgestellt, aber seit den 1960er Jahren sind weit über 1000 Kirchen zerstört worden.[54] Zuletzt zündeten aufgebrachte Muslime im Februar 2011 zwei Kirchen an, um gegen ein für zu milde gehaltenes Gerichtsurteil gegen einen Christen zu protestieren. Dieser war wegen „Beleidigung des Islams“ zur Höchststrafe von 5 Jahren verurteilt worden, die aufgebrachte Menge aber forderte seinen Tod.[55]

In Pakistan ist der Blasphemieparagraph, der im Jahr 1986 eingeführt wurde, zum Kampfmittel gegen Andersgläubige und Kritiker geworden. Anfang 2011 saßen allein in der Provinz Punjab 130 Menschen wegen Blasphemievorwürfen im Gefängnis: Christen, Ahmadis und andere Muslime. In abgelegenen Dörfern führt der Vorwurf der Blasphemie immer wieder zu Selbstjustiz.[56]

Die etwa 5 Millionen Menschen zählende islamische Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya in Pakistan wurde 1974 von der Islamischen Weltliga zur nicht-muslimischen Minderheit erklärt. Ihre Anhänger durften sich fortan nicht mehr Muslime nennen und ihre Bethäuser nicht mehr Moschee, was ihrer Verfolgung als Apostaten Tür und Tor geöffnet hat.[57] Dass viele pakistanische Migranten auch in Europa die Definitionshoheit über den Islam und den von Intoleranz und Feindschaft geprägten Umgang mit Andersgläubigen für ihr selbstverständliches Recht halten, zeigt sich an der Forderung pakistanisch-britischer Organisationen, die britische Regierung möge die Ahmadis und ihren „gottlosen Glauben“ auch in Großbritannien verbieten.[58]

In Syrien war es Christen unter der Herrschaft der Familie Assad möglich, in hohe Staatsämter zu gelangen, was weniger ein Zeichen von Toleranz, sondern der Tatsache geschuldet war, dass das alevitische Herrscherhaus selbst zu einer religiösen Minderheit im sunnitischen Syrien gehört und daher zu seinem Schutz gern Angehörige anderer Minderheiten in Militär und Staatsdienst um sich scharte. Seit einigen Jahren werden auch aus Syrien vermehrt Übergriffe von Muslimen auf Christen gemeldet.[59]

In der Türkei leben heute noch etwa 100.000 Christen. Ihre Kirchen haben keinen gesicherten Rechtsstatus, was den Bau neuer Gotteshäuser, den Besitz von Immobilien und die Ausbildung von Priestern erschwert.[60] Im Sommer 2011 beschloss die türkische Regierung die Rückerstattung allen seit 1936 beschlagnahmten Eigentums christlicher und jüdischer Stiftungen, beziehungsweise dessen Entschädigung zu aktuellen Marktpreisen. Dabei handelt es sich allein in Istanbul um hunderte Immobilien in bester Lage. Dies ist auch deswegen ein Schritt in die richtige Richtung, weil sich in den letzten Jahren vor allem im Südosten des Landes Angriffe auf Christen und ihr Eigentum mehren. Othmar Oehring, Menschenrechtsbeauftragter und Berater der türkischen Bischofskonferenz, berichtet, dass es zu Brandanschlägen auf Weinberge und Felder gekommen sei und christliche Türken von nationalistischer wie von islamistischer Seite wie Ausländer betrachtet würden.[61] Obwohl Religion von Gesetz wegen als Privatsache gilt, wird davon ausgegangen, dass ein Türke immer auch ein Muslim ist – eine Haltung, die auch vielen areligiösen Türken das Leben schwer macht.[62] Im Sommer 2011 sorgte ein türkisches Schulbuch für Aufsehen, in dem Christen als Landesverräter bezeichnet werden, die aus wirtschaftlichen Gründen die Türkei verlassen hätten, um sich im Ausland „zum Werkzeug der politischen und religiösen Interessen“ des Westens machen zu lassen.[63] Der Versuch Atatürks, die islamische Umma durch das Kollektiv der Türken zu ersetzen, führte letztlich nur zur Verschmelzung von Türkentum und Islam, der türkische Nationalismus ist zugleich ein religiöser.

Nach orthodoxem sunnitischem Verständnis sind Aleviten mit ihrer dem Schiitismus verwandten Glaubensauffassung keine wahren Muslime. Selbst in der Türkei werden sie als Glaubensgemeinschaft nicht anerkannt, obwohl sie ca. 10-15% der Bevölkerung ausmachen.[64] Ihr Anteil an türkischen Zuwanderern in Deutschland und Österreich dürfte ähnlich hoch sein. Seit 2002 sind sie in Deutschland als Religionsgemeinschaft anerkannt. In Österreich mussten Aleviten 2010 bis vor das Verfassungsgericht ziehen, weil der Staat ihnen die Anerkennung als Religionsgemeinschaft mit dem Argument verweigert hatte, es gebe schon eine Vertretung für Muslime – in Verkennung der Tatsache, dass Aleviten von dieser nicht anerkannt werden.[65]

Im heutigen Iran zeigt sich die unterschiedliche Wertigkeit der Bewohner des Landes deutlich im sogenannten „Blutgeld“, jener Summe, die nach Scharia-Recht vom Täter gezahlt werden muss, wenn sich die Angehörigen des oder der Ermordeten auf Kompensation statt Wiedervergeltung (Hinrichtung) einlassen. Der Mord an einem Muslim ist dabei achtmal so teuer, wie der Mord an einem Christen, Juden oder Zoroaster – einen Bahai zu töten, kostet gar nichts. Im Gespräch mit dem Schriftsteller Navid Kermani äußert sich ein christlicher Bauer zu diesem Gesetz: „Es geht nicht um die Geldsumme; es geht um unser Selbstwertgefühl als Iraner; darum, dass wir von unseren Kindern gefragt werden, weshalb sie weniger wert sind als ihre muslimischen Freunde.“[66]

Homosexualität

Die Intoleranz gegenüber abweichenden Lebensstilen zeigt sich besonders deutlich an der Ablehnung und Verfolgung Homosexueller.[67] In sieben Ländern der Erde wird Homosexualität mit der Todesstrafe bedroht, alle sieben sind islamisch: Iran, Sudan, Jemen, Mauretanien, Somalia, Niger und Saudi-Arabien. Amnesty International zufolge wurden allein im Iran seit der Revolution von 1979 4000 Homosexuelle hingerichtet.[68] Im UN-Menschenrechtsrat stimmten im Jahr 2011 islamische und afrikanische Staaten gegen eine Resolution, die gleiche Rechte für alle Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung forderte. Die Resolution konnte dennoch mit knapper Mehrheit (23 zu 19 Stimmen) verabschiedet werden.[69]

Auch unter muslimischen Zuwanderern Europas ist eine feindliche Haltung gegenüber Homosexuellen weit verbreitet. In Berlin und anderen deutschen Großstädten werden in den letzten Jahren vermehrt Belästigungen und gewalttätige Übergriffe muslimischer Jugendlicher auf Homosexuelle registriert. Das arabisch-deutsche Anzeigenmagazin AL-SALAM („Der Friede“) veröffentlichte im April 2008 einen Artikel über Homosexuelle, gegen den Homosexuellen-Initiativen Anzeige erstatteten. Mit Verweis auf Koran und Sunna wird darin vor den vermeintlichen Gefahren gewarnt, die von Homosexuellen ausgingen. Diese würden bei Berührung ansteckende Krankheiten übertragen, weshalb es ratsam sei, ihnen nicht die Hand zu geben. Durchgängig werden Homosexuelle als „Anormale“ bezeichnet, auf die Gottes Strafe warte. Muslime werden aufgerufen, sich von ihnen fern zu halten.[70] Einer Studie aus dem Jahre 2007 zufolge sind 79% der türkischstämmigen Jugendlichen in Deutschland schwulen- und lesbenfeindlich eingestellt.[71] Mehrere islamische Berliner Vereine[72] gaben im September 2008 als Reaktion auf zunehmende Übergriffe auf Homosexuelle eine Stellungnahme ab, die sich vom üblichen Tenor unterscheidet. Darin heißt es: „Ausgehend von den Aussagen des Korans gibt es unter muslimischen Gelehrten den Konsens, dass homosexuelle Handlungen theologisch als Sünde zu betrachten sind.“ Aber:

Gleichzeitig sind wir der festen Überzeugung, dass die sexuelle Orientierung, der Konsum von Alkohol, oder was auch immer in der islamischen Theologie als Sünde betrachtet wird, Privatsache ist. Ob wir etwas gutheißen oder nicht, wird und kann die Freiheit des Einzelnen in keiner Weise beschränken. Für uns handelt hier jeder Mensch eigenverantwortlich und wird im Jenseits – dies ist fester Bestandteil unserer islamischen Glaubensvorstellung – vor seinem Schöpfer für sein gesamtes Handeln Rechenschaft ablegen müssen. […] Nicht die Glaubensvorstellung führt zu Homophobie, sondern vielmehr ein mangelndes Verständnis über die Freiheit des Einzelnen. […]Entscheidend ist […] die Vermittlung eines richtigen Verständnisses für die vielfältige Freiheit des Einzelnen bzw. des Anderen unabhängig von den eigenen Überzeugungen, die jeder Mensch wiederum für sich frei wählen kann.[73]

Diese Erklärung ist auch deswegen bemerkenswert, weil die beteiligten Vereine darin die Essenz für das friedliche Miteinander in einer pluralistischen Gesellschaft und für die Toleranz gegenüber anderen auf den Punkt gebracht haben. Toleranz beruht darauf, den Anderen als Menschen mit eigener Würde und dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zu akzeptieren, auch wenn seine Einstellungen und sein Tun nicht nach eigenem Geschmack sind. Ob sich diese Haltung auch in die Moscheegemeinden und Koranschulen fortsetzt, wird sich zeigen müssen.

Glaubenswechsel und –austritt

Der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft ist, ebenso wie der Übertritt zu einer anderen, eine für konservative Muslime ungewöhnliche, um nicht zu sagen unmögliche Vorstellung. Die Abwendung vom Islam wird nicht toleriert. Die meisten der areligiösen Frauen und Männer türkischer oder arabischer Herkunft lösen das Problem, indem sie um ihre Haltung kein großes Aufheben machen und einer Konfrontation mit der eigenen Familie, der Nachbarschaft et cetera aus dem Weg gehen.[74] Wenn sich ehemalige Muslime dafür entscheiden, ihren Werdegang öffentlich zu machen, oder gar einen Verein gründen, wie das in mehreren westeuropäischen Ländern geschehen ist,[75] sorgt das unter Muslimen für große Aufregung und bedeutet für die Geouteten selbst nicht selten eine Gefahr. In den meisten islamischen Ländern wäre etwas derartiges ohnehin nicht möglich, ohne sich gesellschaftlicher Ächtung und/oder staatlicher Verfolgung auszusetzen. Seit vielen Jahren wird in Europa eine Zunahme von Glaubensübertritten –  sowohl zum Islam hin, als auch vom Islam weg (in der Regel zum Christentum) –  beobachtet. Da die zum Islam Konvertierten ihren Glauben frei zeigen können und nicht mit Morddrohungen rechnen müssen, ist ihre Zahl einfacher zu bestimmen, als die Zahl der zum Christentum übertretenden Muslime. Pfarrer und Kirchenbeauftragte handhaben diese Übertritte meist auf Wunsch der Betroffenen äußerst diskret. In der Regel fallen sie, im Gegensatz zu muslimischen Konvertiten, die ihren Wechsel oft durch Kleidung anzeigen und mitunter öffentlich auftreten, weniger auf.[76] Der durch extremistische Positionen bekannt gewordene, nach wie vor legal operierende Europäische Fatwa- und Forschungsrat (ECFR) mit Sitz in Irland verteidigt in seinen Empfehlungen für in Europa lebende Muslime ausdrücklich das Recht islamischer Länder, Abtrünnige hinzurichten. Die Abwendung vom Islam sei ein Übel und eine Gefahr für die Gemeinschaft. Der Einzelne habe keineswegs das Recht, frei über seinen Glauben zu entscheiden. Der ECFR rechtfertigt seine Haltung mit dem Hinweis darauf, dass auch moderne Rechtsstaaten den Tatbestand des Hochverrats kennen und unter Strafe stellten.[77] Nun zeigt gerade dieser Hinweis die Selbstverständlichkeit der Verbindung von Staat und Religion im konservativen Islam. Neben anderen Kriterien zählt die Anerkennung der freien Wahl der Religion und damit auch die selbstverständliche Möglichkeit, aus einer Glaubensgemeinschaft wieder auszutreten, zu den Grundvoraussetzungen für die staatliche Anerkennung als Glaubensgemeinschaft.

Fazit

Angesichts der Geschichte und der gegenwärtigen Verhältnisse in islamischen Ländern kann von einem toleranten Islam keine Rede sein. Überall, wo der Islam Staatsreligion ist oder in einer besonderen Nähe zur staatlichen Macht steht, ist Intoleranz gegenüber Andersgläubigen oder anders lebenden Menschen ein selbstverständlicher Bestandteil des Umgangs mit ihnen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Da aufklärerische Positionen im Islam bislang eher randständig sind, und von der Mehrheit der islamischen Strömungen die Gleichstellung aller Menschen mit dem Hinweis auf eine höhere – islamische – Gerechtigkeit abgelehnt wird, verbleiben Andersgläubige und erst recht Agnostiker und Atheisten in einem prekären Status. Der syrische Philosoph Sadik al-Azm betont daher die Notwendigkeit, sich ein für alle Mal von sämtlichen Gesetzen und Regeln der Scharia zu verabschieden, die sich auf nicht-muslimische Minderheiten beziehen und diese auch de jure zu widerrufen. Hierzu bedürfe es allerdings des Eingeständnisses, „dass die Prinzipien der Scharia, die sich auf nicht-islamische Religionen beziehen, nicht mehr gültig und nicht mehr anwendbar sind, ebenso wenig wie jene Gesetze und Vorschriften der Scharia, die einst die Sklaverei in muslimischen Ländern und Gesellschaften regelten.“ Dieses Eingeständnis sei, so al-Azm, die Voraussetzung dafür, dass die arabischen Staaten zu Staaten für alle ihre Bürger würden.[78]

Der Geschichtsmythos vom toleranten Islam hilft niemandem weiter und steht einer kritischen Aufarbeitung der islamischen Geschichte im Weg. Ein Begriff wie Toleranz scheint zur Beurteilung mittelalterlicher Gesellschaften – islamischer wie christlicher – ohnehin untauglich, insbesondere wenn wir ihn – im modernen Sinne – als Toleranz aus Überzeugung und nicht als Duldung aus pragmatischen Gründen definieren.

Religiöse Intoleranz ist ein verbreitetes gesellschaftliches Phänomen islamischer Länder. Die jüngsten Proteste und Aufstände in den arabischen Staaten und im Iran haben einerseits gezeigt, dass es eine Schicht gibt, der die Trennung von Religion und Staat und die Befreiung aus religiöser Bevormundung ein Anliegen sind, aber sie offenbaren andererseits auch, wie stark und organisiert konservative religiöse Kräfte sind und wie viel Zuspruch sie aus der Bevölkerung erhalten. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob der Sturz der Diktatoren zum Erstarken dieser Kräfte und damit zu einer repressiveren religiösen Haltung und zu neuen Verfolgungen andersgläubiger und anderslebender Menschen führt.

Die Erschütterungen in der arabischen Welt bergen die Gefahr einer Verstärkung der kollektivistischen Strukturen arabischer Gesellschaften. In Ägypten werden Andersgläubige, vor allem Kopten, seit Frühjahr 2011 vermehrt zur Zielscheibe; Verschwörungstheorien gegen Christen, Juden und den Staat Israel haben Hochkonjunktur.[79] Zwischen die Fronten geraten dabei diejenigen, die sich für Aufklärung, Freiheit und Menschenrechte einsetzen – in Ägypten ein maßgeblicher Teil derer, die die Proteste gegen Mubarak überhaupt erst initiiert haben.

Wie gering die Zahl derjenigen ist, die den Mut haben, gegen religiöse Tabus zu verstoßen, zeigt sich vielleicht am deutlichsten am Schicksal des ägyptischen Bloggers Maikel Nabil Sanad. Der 26jährige wurde im Frühjahr 2011 vom Militärrat für einen militärkritischen Kommentar zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte dem Militär vorgeworfen, nicht auf der Seite der Aufständischen zu stehen und damit eine Doktrin der Post-Mubarak-Ordnung angegriffen. Im gleichen Text kritisierte er den „Jungfräulichkeitstest“, den das Militär an ägyptischen Aktivistinnen vorgenommen hatte. Für den Militärrat ist Sanad ein leichtes Opfer, weil er nur einen kleinen Unterstützerkreis hat. Das hat zwei Gründe: Sanad setzt sich für den Frieden mit Israel ein und hat israelischen Opfern von Terroranschlägen sein Bedauern ausgesprochen und – Sanad ist Atheist.

Einige ägyptische Blogger wurden relativ schnell wieder freigelassen, weil sie Massen mobilisieren konnten. Sanad jedoch verstößt in einer Gesellschaft, in der Religion das tägliche Leben einer großen Mehrheit maßgeblich bestimmt, gegen mehrere Tabus, und die Aufständischen waren nicht bereit, für ihn auf die Straße zu gehen. Es ist internationalem Druck zu verdanken, dass Sanad im Januar 2012 im Rahmen der Amnestie zum ersten Jahrestag der „Revolution“ freigelassen wurde.[80]

Monotheistische Offenbarungsreligionen, mit dem ihnen eigenen Wahrheitsanspruch, tendieren, wie politische Ideologien, zur Intoleranz,[81] umso mehr, wenn ihre Mitglieder sich als religiöse Kollektive begreifen. Eine Gruppenidentität bildet notwendigerweise eine Grenze zu allen anderen Gruppen. Diese Abgrenzung ist dem Kollektivismus immanent und lebensnotwendig, definiert sich doch erst dadurch das Kollektiv. So legen konservative Islamgelehrte, wie die des erwähnten Europäischen Fatwa-Rats, nicht nur deswegen besonderen Wert auf die strikte Einhaltung der Speisegesetze, weil diese von Koran und Sunna gefordert werden, sondern weil sie, wie betont wird, ein eindeutiges Unterscheidungskriterium gegenüber Andersgläubigen seien.[82] Das Kollektiv bezieht seine Legitimation gegenüber der übrigen Gesellschaft aus seinem Anders-Sein, das immer auch ein Besser-Sein bedeutet. Abgrenzung nach außen erzeugt zudem Konformitätsdruck nach innen. Kollektivistisches Denken kann deshalb weder abweichendes Verhalten innerhalb der Gruppe, noch andere über die Stufe der Duldung hinaus tolerieren.

Toleranz im modernen Sinne setzt voraus, dem Anderen Würde und Anerkennung allein aufgrund seines Menschseins zuzusprechen, unabhängig davon, ob seine Ansichten und sein Lebensstil gefallen oder nicht. Toleranz, so der Philosoph Rainer Forst, bedeute nicht, Meinungsverschiedenheiten zu verneinen oder aus dem Wege zu räumen, sondern mit ihnen zu leben. „Toleranz heißt dann, sich von dem eigenen Urteil zu distanzieren, ohne es aufzugeben; es bleibt bestehen, aber man sieht stärkere Gründe, weshalb man mit sozialer Differenz leben muss.“[83]

Toleranz kann nur dann über die Stufe der Duldung hinausgeführt werden, wenn sie auf den einzelnen Menschen bezogen wird, der trotz seines Andersseins als gleichberechtigt anerkannt wird. Aus dieser Einsicht heraus wurden nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert: Als „Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“.[84]

Die aus ihnen resultierende Freiheit des Individuums war und ist nicht unumstritten. Das Heraustreten des Individuums aus dem Kollektiv, wie es Europa seit der Aufklärung erlebt hat, war mit schweren gesellschaftlichen Umbrüchen und Kämpfen verbunden, die den Kontinent über mehrere Jahrhunderte hinweg erschüttert haben. Das Ende der traditionell kollektivistischen Gesellschaften setzte nicht nur das Individuum frei, sondern gebar zugleich jene politischen Bewegungen, die es wieder in ein Kollektiv zwingen wollten: Nationalismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus. Diese erscheinen ebenso wie der Islamismus, bei allen Unterschieden, als moderne Varianten archaischen Stammesdenkens. Vielleicht ist es deshalb auch nicht verwunderlich, dass kollektivistische Ideologien stets umso erfolgreicher waren, je mehr sie an archaische Muster appellierten. Abstammung etwa war erfolgreicher als Klasse und nationalistische Ideologien haben größeren Zuspruch gefunden als kommunistische.

Die Genozide des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt der Zweite Weltkrieg und die Vernichtung der europäischen Juden haben die Gewalt offen gelegt, die kollektivistischen Weltbildern innewohnt. Nach diesen Erfahrungen machten die Staaten West-Europas die allgemeinen Menschenrechte und damit die Freiheit des Einzelnen zur Grundlage ihrer Verfassungen.[85]

Nur die persönliche Freiheit kann – im Gegensatz zur politischen, die bereits das klassische Athen kannte – modern genannt werden,[86] denn nur sie entbindet den Einzelnen aus der kollektivistischen Umklammerung, in der der Stamm, der Staat oder die Religionsgemeinschaft bestimmen, was das „richtige Leben“ ist. Die Voraussetzung für diese Freiheit ist die Übereinkunft darüber, dass Konflikte ausschließlich mit Worten und nicht mit Waffen ausgetragen werden (Friedensgebot) sowie ein religions- und weltanschauungsneutraler, mit einem Gewaltmonopol ausgestatteter Staat, der über den innergesellschaftlichen Frieden wacht. Dieser innergesellschaftliche Frieden ist die Voraussetzung für das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe, die nur dort eine Einschränkung erfahren dürfen, wo sie andere und deren Freiheit gefährden.

Bei Teilen der europäischen Muslime sind das Festhalten am Kollektiv und eine zunehmende Identifizierung mit der Religion unübersehbar.[87] Kollektivistisches Denken ist auch bei der autochthonen Bevölkerung in Europa keineswegs überwunden. Es zeigt sich besonders – aber nicht nur – in vermeintlichen oder tatsächlichen Krisensituationen, in denen viele Menschen dazu tendieren, sich der Eigengruppe zu vergewissern. Im Anschluss an die Revolutionen von 1989 etwa blühte in Teilen Osteuropas der Nationalismus auf und führte zu teils blutigen Auseinandersetzungen und Kriegen. Aktuell haben rechtspopulistische Gruppierungen Zulauf, die mit einer national-völkischen Propagierung eines Wir gegen die Anderen erfolgreich auf Stimmenfang gehen, wenngleich sich in einigen Ländern wie etwa Deutschland und Schweden in den jüngsten Wahlergebnissen ein Rückgang gezeigt hat. Allerdings hat der Stammtisch durch das Internet eine größere Verbreitung als je zuvor; in Foren wird offen gegen Ausländer im Allgemeinen und Muslime im Besonderen gehetzt, Bürgerinitiativen und Volksabstimmungen wenden sich gegen den Bau von Moscheen und Minaretten. Nun gehören Volksabstimmungen als Element der direkten Demokratie zum politischen System der Schweiz und funktionierten bislang sehr gut. Die Initiatoren der Minarett-Initiative haben jedoch eine demokratische Spielregel gebrochen, indem sie über die Rechte einer Minderheit abstimmen ließen. Aber auch die moderne Demokratie steht unter Vorbehalt der Menschenrechte und – entgegen landläufiger Meinung und im Übrigen auch entgegen der Auffassung der Erfinder der Demokratie, der alten Griechen – ist die Mehrheit nicht berechtigt, über die Rechte einer Minderheit abzustimmen. „Demokratie“, so der Philosoph Giovanni Sartori, „ist nicht unqualifizierte (und damit unbeschränkte) Mehrheitsherrschaft.“[88] Über das Schweizer Minarett-Bauverbot wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheiden müssen und es ist absehbar, dass dieses Verbot dort keinen Bestand haben wird.[89]

Die Rückkehr in den Schoß vermeintlich schützender nationaler, völkischer oder religiöser Kollektive bedroht den gesellschaftlichen Frieden und die Freiheit der Menschen in Europa. Toleranz zeigt sich weder in starrer Abgrenzung noch in gleichgültiger Zulassung von anderen Lebensgewohnheiten. Vielmehr wird sie sichtbar in der Akzeptanz der Freiheit anderer, Überzeugungen zu vertreten und eine Lebensgestaltung zu wählen, die den eigenen Wertigkeiten mitunter völlig zuwider läuft, solange sie nicht gegen die Freiheit anderer verstoßen.[90] Toleranz kann nur gedeihen in einem Klima des gesellschaftlichen Konsens über den Umgang miteinander und im Vertrauen in die Werte einer pluralistischen Gesellschaft.

Weiterführende Literatur

Sabine HERING(Hg.), Toleranz – Weisheit, Liebe oder Kompromiss? Multikulturelle Diskurse und Orte, Opladen 2004

Rainer FORST, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/Main 2003

Bernard LEWIS, Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Siegfried KOHLHAMMER, Toleranter Islam? Duldung und Demütigung, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 56. Jahrgang, Heft 7, Juli 2002, S. 589-600

Anmerkungen

[1] Sabine HERING, H.-Georg LÜTZENKIRCHEN, Ist Toleranz Weisheit, Liebe oder Kompromiss? – Ein Ausblick, in: Sabine HERING (Hg.), Toleranz – Weisheit, Liebe oder Kompromiss. Multikulturelle Diskurse und Orte, Opladen 2004, 191.

[2] Nina SCHOLZ, Heiko HEINISCH, „…alles werden sich die Christen nicht gefallen lassen“. Wiener Pfarrer und die Juden in der Zwischenkriegszeit, Wien 2001, 27 f.; Papst Innozenz III. konnte dabei freilich auf weit ältere kirchliche Beschlüsse zurückgreifen, war doch beispielsweise die Tisch- und Ehegemeinschaft zwischen Christen und Juden schon auf der Synode von Elvira im Jahre 309 verboten worden.

[3] Rüdiger BUBNER, Zur Dialektik der Toleranz, in: Rainer FORST (Hg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt/Main 2000, 48.

[4] Rainer FORST, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/Main 2003, 42.

[5] Johann Wolfgang GOETHE, Maximen und Reflexionen, Leipzig 1988 (Erstveröffentlichung 1833), 183.

[6] FORST, Toleranz, 129, 542.

[7] Abgedruckt bei: HERING, Toleranz, 223-234.

[8] HERING, LÜTZENKIRCHEN, Toleranz, 192.

[9] Werner BECHER, zitiert nach: Fuad KANDIL, Blockierte Kommunikation: Islam und Christentum. Zum Hintergrund aktueller Verständigungsprobleme, Berlin 2008, 118.

[10] Siegfried KOHLHAMMER, Toleranter Islam? Duldung und Demütigung, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 56. Jahrgang, Heft 7, Juli 2002, 589 f.

[11] Siehe die Beiträge in: Karl-Heinz OHLIG, Gerd R. PUIN (Hg.), Die dunklen Anfänge, Berlin 2007; Karl-Heinz OHLIG (Hg.), Der frühe Islam, Berlin 2007; Karl-Heinz OHLIG, Markus GROSS (Hg.), Schlaglichter. Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte, Berlin 2008; Barbara KÖSTER, Der missverstandene Koran. Warum der Islam neu begründet werden muss, Berlin; Tübingen 2010.

[12] Bernard LEWIS, Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, München 1987, 32.

[13] KOHLHAMMER , Islam, 592.

[14] Ebenda.

[15] Hubert HOUBEN, Die Tolerierung Andersgläubiger im normannisch-staufischen Süditalien, in: Odilo ENGELS, Peter SCHREINER (Hg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993, 78.

[16] KOHLHAMMER , Islam, 590.

[17] Ebenda, 591.

[18] Für dieses und alle weiteren in diesem Buch verwendeten Koranzitate wurde die Übersetzung von Rudi Paret herangezogen: Der Koran, Übersetzung von Rudi PARET, Stuttgart 92004.

[19] LEWIS, Juden, 23.

[20] Ebenda, 41-44, 148 f.

[21] Siehe u.a.: www.islampoint.de/IsLaM/fragen/islamallgemeinii/index.html; Said RAMADAN, Das Islamische Recht. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1980, 120 f. Ramadan geht in seiner Apologetik so weit, die Kopfsteuer als Bezahlung für den Schutz und die Verteidigung des Reiches zu bezeichnen, die allein von den  Muslimen geleistet werden musste. Ähnlich argumentiert auch Murad Wilfried HOFMANN, Der Islam als Alternative, München 1995, 198.

[22] Tilmann NAGEL, Das Islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 32.

[23] Bat YE‘OR, Der Niedergang des orientalischen Christentums unter dem Islam, Grefelfing 22005, 84-87.

[24] Ebenda, 84-87.

[25] Zitiert nach: Ebenda, 86.

[26] NAGEL, Recht, 96.

[27] LEWIS, Juden, 91.

[28] YE‘OR, Niedergang, 201.

[29] Ebenda, 90 f.

[30] LEWIS, Juden, 39; 162 f.

[31] NAGEL, Recht, 99 f.

[32] LEWIS, Juden, 38.

[33] Ebenda, 28.

[34] Mathias ROHE, Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München 2009, 153.

[35] Klemens LUDWIG, Die Opferrolle. Der Islam und seine Inszenierung, München 2011, 51.

[36] YE‘OR, Niedergang, 94 f.

[37] Zitiert nach: Ebenda, 95.

[38] Gunda WÖBKEN-EKERT, Die Geschichte Gina Bublils, die mit 19 Jahren ihre libysche Heimat verlassen musste, weil sie eine arabische Jüdin ist: Flucht vor dem tödlichen Hass, Berliner Zeitung 7. Oktober 2006:

www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2006/1007/magazin/0002/index.html; Siegfried KOHLHAMMER, Duldung und Demütigung, in: taz vom 21. September 2002: www.taz.de/1/archiv/?id=archivseite&dig=2002/09/21/a0331.

[39] Abu Amir Muhammad ibn Abdallah ibn Abi Amir, Alleinherrscher von 978-1002.

[40] Johannes THOMAS, Frühe spanische Zeugnisse zum Islam. Vorschläge für eine differenziertere Betrachtung der Konflikte und der religiösen Gemeinsamkeiten zwischen dem Osten und dem Westen des arabischen Reiches, in: GROSS; OHLIG (Hg.), Schlaglichter, 98 f.

[41] YE‘OR, Niedergang, 94.

[42] Mariano DELGADO, Der Mythos „Toledo“ – Zur Konvivenz der drei monotheistischen Religionen und Kulturen im mittelalterlichen Spanien, in: HERING, Toleranz, 74 f.; YE‘OR, Niedergang, 95.

[43] DELGADO, Mythos, 75 f.

[44] THOMAS, Zeugnisse, 97 f.

[45] DELGADO, Mythos, 81-83.

[46] KOHLHAMMER, Islam, 595.

[47] Michael KIEFER, Antisemitismus in islamischen Gesellschaften: Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002, 34.

[48] Friedrich KLÜTSCH, Schwerter des Geistes – Die Blüte von Kultur und Wissenschaft, in: Bernhard v. DADELSEN (Hg.), Aufbruch ins Morgenland, Weltreligion Islam: Geschichte, Kultur, Gesellschaft, München 2009, 122 -125.

[49] Amartya SEN, Die Identitätsfalle, München 2010, 64.

[50] David STACTON, Der Schwarze Dienstag. Der Fall von Byzanz, Wien-Hamburg 1967, 132.

[51] LEWIS, Juden, 115 f.

[52] Vorwort von Allah Bukhsh K. BROHI in: Said RAMADAN, Das Islamische Recht. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1980, 18.

[53] Irsahad MANJI, Der Aufbruch. Plädoyer für einen aufgeklärten Islam, Frankfurt 2003,150 f.

[54] LUDWIG, Opferrolle, 90.

[55] Tagesspiegel vom 8. Februar 2011, „Aufgebrachte Muslime zünden zwei Kirchen an“: www.tagesspiegel.de/weltspiegel/aufgebrachte-muslime-zuenden-zwei-kirchen-an/3799254.html.

[56] Tagesspiegel vom 9. Januar 2011, „Versunken im Fundamentalismus“: www.tagesspiegel.de/politik/versunken-im-fundamentalismus/3693450.html.

[57] MANJI, Aufbruch, 127.

[58] Siegfried KOHLHAMMER, Die Feinde und die Freunde des Islam, Göttingen 1998, 38.

[59] Kath.net, 7. Mai 2011, „Aufstand in Syrien: Werden Christen vertrieben?“: www.kath.net/detail.php?id=31326.

[61] Anna REIMANN, Yassin MUSHARBASH, Hass auf die kleine Herde, in: Der Spiegel 194/2007: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,478091,00.html.

[62] Wolfgang Günter LERCH, Christen in der Türkei, in FAZ, 23. Oktober 2010: www.faz.net/artikel/C30089/religionsfreiheit-christen-in-der-tuerkei-30001648.html.

[63] Kurier, 27. September 2011, „Christen diffamiert“, 5.

[64] Siehe etwa: Martin SÖKEFELD (Hg.), Aleviten in Deutschland. Identitätsprozess einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, Bielefeld 2008, 15.

[65] www.aleviten.at/log_de/?page_id=40; eine weitere alevitische Organisation, die Föderation der Aleviten Gemeinden in Österreich harrt indes noch der Anerkennung: www.aleviten.or.at/cms/de-detail/article/aleviten-erneute-vfgh-beschwerde-steht-fest.html.

[66] Navid KERMANI, Isfahan – die halbe Welt, in: HERING, Toleranz, 51.

[67] Siehe etwa:Brian WHITAKER, Unspeakable Love: Gay and Lesbian Life in the Middle East, Saqi Books 2006, in: http://de.qantara.de/wcsite.php?wc_c=3520.

[70] Der Text aus al-Salam findet sich hier: www.ufuq.de/newsblog/175; siehe auch: Ferda ATAMAN, Yassin MUSHARBASH, Arabisches Magazin diffamiert Schwule als Krankheitsüberträger, in: Spiegel-online, 15. August 2008: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,571943,00.html.

[71] Sascha STEUER, Homosexualität: „Die jüngsten Übergriffe machen uns Angst“, Tagesspiegel, 6. November 2008: www.tagesspiegel.de/berlin/landespolitik/homosexualitaet-die-juengsten-uebergriffe-machen-uns-angst/1365758.html; siehe auch: Marlies EMMERICH, Andreas KOPIETZ, Integrationsbeauftragter diskutierte darüber erstmals mit Migranten, Schwulen und Lesben am runden Tisch: Immer mehr Übergriffe gegen Homosexuelle, in: Berliner Zeitung, 29. Oktober 2008:

www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2008/1029/berlin/0040/index.html.

[72] Deutschsprachiger Muslimkreis (DMK), DITIB, Inssan, Interkulturelles Zentrum für Dialog und Bildung (IZDB), Islamisches Kultur- und Erziehungszentrum (IKEZ), Muslimische Jugend, Neuköllner Begegnungsstätte (NBS).

[73] Der Text der Erklärung findet sich hier: www.ufuq.de/newsblog/212-islamische-vereine-gegen-homophobe-hetze.

[75] So etwa in Deutschland, Österreich, Skandinavien und Großbritannien: www.ex-muslime.de/; www.exmuslime.at/; www.exmuslim.net/; http://ex-muslim.org.uk/

[76] NZZ, 26. Februar 2006, „Muslime konvertieren heimlich“: www.nzz.ch/2006/02/26/il/articleDM3ZP.html; Radio Vatikan, 5. November 2008, „Vatikan: Konvertierte bitten um Respekt“: http://storico.radiovaticana.org/ted/storico/2008-11/242633_vatikan_konvertierte_bitten_um_respekt.html; NZZ, 3. September 2007, „Zum Christentum konvertierte Ägypter – eine rare Spezies“.

[77] Bundeszentrale für politische Bildung vom 10. März 2010: www.bpb.de/themen/2R8K3B,1,0,Fatwas_f%FCr_Europa.html

[78] Sadik al-AZM, Islam und säkularer Humanismus, Tübingen 2005, 57.

[79] So wird etwa das Coca Cola-Label, verkehrt herum gelesen, zu einem Spruch gegen Mohammed und den Islam: www.muslim-markt.de/boykott/cocacola.htm; Israel wird wechselweise angelastet, Umstürze anzuzetteln, als auch ihren Erfolg zu verhindern: Interview mit Efraim HALEVY, „Israel hat keine Angst“, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, 24. Februar 2011: www.cicero.de/weltb%C3%BChne/%E2%80%9Eisrael-hat-keine-angst-%E2%80%9C/41711; und als vermutet wurde, ägyptische Bockshornkleesamen seien für die Ausbreitung des EHEC-Erregers verantwortlich, vermutete man in Ägypten prompt eine israelische Verschwörung: Deutsche Apotheker Zeitung, 30. Juni 2011: www.deutsche-apotheker-zeitung.de/spezial-ehec/news.html?cHash=18330c3318&tx_crondaz_pi[article]=4799&tx_crondaz_pi[day]=30&tx_crondaz_pi[month]=06&tx_crondaz_pi[year]=2011; Konrad KRAMER, Christen in Ägypten stark unter Druck, in: Kurier, 5. Dezember 2011: http://kurier.at/nachrichten/4318759.php.

[81] Siehe Jan ASSMANN, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München-Wien 2003.

[82] Bundeszentrale für Politische Bildung, „Fatwas für Europa“: http://www.bpb.de/themen/2R8K3B.html

[83] Rainer FORST im Interview, Tagesspiegel 3. Juni 2011, „Deutschland strengt sich an“: www.tagesspiegel.de/kultur/deutschland-strengt-sich-an/4250392.html.

[84] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, 1. Satz der Präambel.

[85] Mit einigen Ausnahmen, die erst später folgten: Spanien, Portugal und Griechenland.

[86] Ulrike ACKERMANN, Eros der Freiheit. Plädoyer für eine radikale Aufklärung, Stuttgart 2008, 68.

[87] Das betrifft oft gerade die jüngere Generation. Siehe dazu die Dokumentation von Nicola GRAEF und Güner BALCI: Kampf im Klassenzimmer. Deutsche Schüler in der Minderheit, ausgestrahlt auf 3SAT am 2. September 2011: www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=26617&mode=play#; siehe auch: www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/article339337/Der_Brief_des_Schulleiters_im_Wortlaut.html.

[88] Giovanni SARTORI, Demokratietheorie, Darmstadt 1997, 41.

[89] Mathieu von ROHR, Die Schweiz wählt die Islam-Angst, in: Spiegel-online, 29. November 2009: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,664135,00.html.

[90] Frank FUREDI, Toleranz: Nicht schuld am Multikulti-Fiasko, Presse v. 22 Februar 2011, 46: http://diepresse.com/home/meinung/debatte/635616/Toleranz_Nicht-schuld-am-MultikultiFiasko.

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