Das Kölner Beschneidungsurteil

von Nina Scholz und Heiko Heinisch

Das Kölner Urteil ist auch Ausdruck einer gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklung, das Individuum in seinen Rechten gegenüber jedem Kollektiv zu stärken, eine Entwicklung die erst vor gar nicht allzu langer Zeit auch Kinder als eigenständige und mit Rechten ausgestattete Persönlichkeiten überhaupt erfasst hat. Die Autorin und der Autor dieses Beitrags halten das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit für gewichtiger als das Recht einer Religionsgemeinschaft auf die Durchführung ihrer Rituale.

In unserem Anfang Juni dieses Jahres erschienenen Buch Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf? weisen wir im Kapitel “Religionsfreiheit” auf die Problematik der Kollision von Menschenrechten hin, wie sie in modernen Grundrechtsdemokratien immer wieder zu beobachten ist. Das betrifft z.B. die Kollision von Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit, wie sie zuletzt breiter im sogenannten Karikaturenstreit diskutiert wurde, oder die Kollision des Persönlichkeitsrechtes (Art. 1 u. 2 GG) mit dem Recht auf Meinungsfreiheit, wie sie zum Alltag der Medienberichterstattung gehört und aktuell im Streit zwischen Papst und Titanic breitere Aufmerksamkeit erregte. In diesem Zusammenhang wird im Buch auch auf die rituelle Beschneidung eingegangen, Weiterlesen

Diese „Bühne“ steht ihm zu – ein Gastbeitrag von Wolfgang Greber

Auch irren Massenmördern gewährt eine moderne Justiz einen ordentlichen Prozess.

Die abstrusen Thesen Breiviks, etwa, dass seine Morde der „Selbstverteidigung der kulturellen Identität Europas“ dienten, sorgen für Diskussionen. Vor allem, wieso das Gericht jemanden, der offenkundig sehr irr oder sehr bösartig oder beides ist, seine abnormen Gedanken an fünf Tagen verkünden lässt – zudem Breivik selbst das Gericht „Propagandachance“ genannt und seine Taten durch sein „Pamphlet“ bereits erklärt hat.

In einer fairen Justiz fußen Strafprozesse aber auf wohletablierten Maximen, etwa der des rechtlichen Gehörs: Jeder Angeklagte hat die uneingeschränkte Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Dass er, wie Breivik, im Vorverfahren alles zugab, ändert nichts, denn es gelten auch Maximen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit: Ein Urteil darf nur auf Beweisen fußen, die in der Hauptverhandlung sichtbar/hörbar vorkamen; Dokumente, etwa Polizeiprotokolle, müssen verlesen werden, Zeugen und Angeklagte erneut aussagen. Und laut Öffentlichkeitsprinzip müssen (fast alle) Verhandlungen von Zusehern im Saal verfolgt werden können; die Liveübertragung etwa per TV ist aber meist illegal – gerade mit dem Zweck, keine grenzenlose Propagandabühne zu schaffen.

Diese Grundsätze müssen, auch wenn es schwerfällt, von der Tat entkoppelt bleiben. Denn ab wann sollten sie nicht mehr gelten: ab drei Toten? Ab 30? Ab 77? Und unangenehme, ideologisch-politisch brisante bis kranke Rechtfertigungen, die vom „Kampf der Kulturen“ zehren, muss eine moderne Gesellschaft aushalten: Redeverbote sind etwas für mittelalterlich-autoritäre Regimes.

Dieser Artikel wurde zuerst abgedruckt in: Die Presse, 18. April 2012, S. 8 und im Internet unter: http://diepresse.com/home/meinung/kommentare/750146/Diese-Buehne-steht-ihm-zu