Türkische Islamisten und der Vertrag von Lausanne

Mit dem Vertrag von Lausanne, der die Türkei vor genau 100 Jahren, am 24. Juli 1923, als Nationalstaat in seinen heutigen Grenzen festschrieb und damit nicht nur den Ersten Weltkrieg endgültig beendete, sondern auch das Ende des Osmanischen Reichs besiegelte, fremdeln türkische Islamisten bis heute.

Der Vertrag von Lausanne revidierte den knapp drei Jahre zuvor abgeschlossenen Vertrag von Sèvres, der dem Osmanischen Reich massive Gebietsverluste aufgezwungen hatte und vom Sultan nur unter Protest unterzeichnet worden war. Vom osmanischen Parlament war er indes nie ratifiziert worden, denn dieses hatte der Sultan fünf Monate zuvor aufgelöst. Zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung im Sommer 1920 war die Macht des Sultans über die verbliebenen osmanischen Gebiete aber ohnehin mehr als angeschlagen. Große Teile standen unter der Kontrolle der von Mustafa Kemal, der unter dem Namen Atatürk (Vater der Türken) in die Geschichte eingehen sollte, geführten Nationalbewegung. Diese hatte im Jahr zuvor den nationalen Befreiungskrieg mit dem Ziel begonnen, die gesamte Türkei für einen künftigen Nationalstaat sowohl von den Alliierten als auch von den Griechen zurückzuerobern. Die Vertragsunterzeichnung in Sèvres betrachteten die Nationalisten um Mustafa Kemal daher als Hochverrat.

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Die Kreuzzüge

Eine Leseprobe aus unserem Buch: Heiko Heinisch; Nina Scholz, Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?, Wien, Passagen Verlag 2012. Das Kapitel “Die Kreuzzüge”. 
Der Krak des Chevaliers in Syrien, Foto von Bernard Gagnon, CC BY-SA 4.0.

In Diskussionen und Auseinandersetzungen rund um den Islam wird regelmäßig der Geist der Kreuzzüge beschworen. Ein 900 Jahre zurückliegendes Ereignis wird dazu benutzt, die Rolle des Opfers für die islamische Welt zu reklamieren und historisch zu belegen. Das ist nicht nur deshalb eine unlautere Vorgehensweise, weil es die dunklen Flecken und das Unrecht ausblendet, die islamische Expansionen und Eroberungen über viele Völker gebracht haben, sondern weil das einseitige Aufrechnen vergangener Schuld nicht der Lösung aktueller Probleme dient, sondern eher dazu angetan ist, moralischen Druck auf die Gegenseite auszuüben. Man stelle sich vor, Ungarn, Serbien oder Griechenland würden bei jeder Verhandlung mit der Türkei die Opferkarte ziehen und permanent auf die Eroberung und Annexion durch die Osmanen hinweisen – die im Übrigen noch nicht so lange zurückliegt wie die Kreuzzüge, und zum Teil wesentlich länger andauerte.

Das Verschweigen oder Verdrängen eigener Gräueltaten korrespondiert mit der Beschreibung der arabischen und osmanischen Eroberungen als glorreich und berechtigt. Diese Haltung findet ihren Niederschlag auch darin, dass Moscheen bis zum heutigen Tag nach osmanischen und arabischen Eroberern benannt werden, womit der Zusammenhang von Religion, Eroberung und Herrschaft im islamischen Denken dokumentiert wird. Weiterlesen

Was der Islam Europa gebracht hat

Der Einfluss vom Islam auf die europäische Kultur ist längst nicht so bedeutend, wie viele meinen. Eine Replik auf Muhammad Sameer Murtazas Artikel Ohne Orient kein Okzident.

Muhammad Sameer Murtazas Artikel verfolgt ein einziges, allzu offensichtliches Ziel: Er will beweisen, dass der Islam immer schon zu Europa gehörte und Europa erst zu dem machte, was es heute ist. Nun schreibt – wer eine Apologetik verfasst – nicht zwangsläufig nur Falsches, wird aber versucht sein, Fakten so darzustellen, dass die eigene Sicht von ihnen gestützt wird und andere Fakten außen vor zu lassen. Das ist ibn rushdMurtaza gut gelungen. Wenn er bedauert, dass der Islam im mittelalterlichen Europa zum Feindbild wurde, unterschlägt er, dass dieses Feindbild benennbare Ursache hatte: Den arabischen und später den osmanischen Imperialismus, der Teile des christlichen Europas über 1000 Jahre hinweg bedrohte. Das klingt bei ihm nur in einem Satz kurz an, um sogleich wieder relativiert zu werden.

Wenn der Autor davon schreibt, dass „500 Jahre Islam auf dem Balkan im kollektiven Gedächtnis Europas verdrängt“ worden seien, dann verdrängt er, was im kollektiven Gedächtnis – ob wir dessen Langlebigkeit nun bedauern oder nicht – nach wie vor präsent ist: Eroberungen, jahrhundertelange Besetzung, Unterdrückung, Angst vor Krieg, Raub und Versklavung. Der Begriff „Türkenkriege“ bezeichnet eine Zeit von ungefähr 1430 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. In manchen Phasen dieser Zeit fielen fast im Jahrestakt Akıncı (irreguläre, aber dem Sultan treu ergebene Reiterhorden von bis zu 10.000 Mann) bis nach Österreich ein. Ihre Aufgabe war es, Gebiete sturmreif zu machen. Sie plünderten, brannten Dörfer und Felder nieder, ermordeten die männliche Bevölkerung und versklavten Frauen und Kinder. „Diese Überfälle haben ganz Thrakien bis hin nach Dalmatien in eine Einöde verwandelt“, schrieb der spätmittelalterliche, byzantinische Historiker Dukas.

Und wenn Murtaza an anderer Stelle schreibt, Weiterlesen

In eigener Sache

Das Buch „Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?“ von Nina Scholz und mir ist soeben im Passagen-Verlag erschienen. Es ist unser Versuch, die Debatte um Islam und Europa vor dem Hintergrund der universalen Menschenrechte zu diskutieren.

 

 

 

 

 

 

 

In 16 Kapiteln setzen wir uns mit verschiedenen Themen und Begriffen auseinander, die diese Debatte wesentlich prägen. Auf die Probleme und Herausforderungen, die Einwanderung aus islamischen Ländern mit sich gebracht hat, haben Politik und Gesellschaft bislang keine angemessene Antwort gefunden – was zur Konsequenz hat, dass immer häufiger jenen das Feld überlassen wird, die mit billigem Populismus gegen Ausländer, Minarette und Kopftücher hetzen, aber auch denjenigen, Weiterlesen

Wie freundlich ist der Islam?

Der Redakteur Daniel Behrendt hat mich für sonntag – das digitale Wochenendmagazin der Mediengruppe Madsack (Nr. 3210. August 2014) interviewt. Ein Gespräch über Vorurteile, die Möglichkeit der Religionskritik, islamischen Extremismus, Scharia und vieles mehr.

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Die Franken

„Was gehen uns ‚die Franken‘ an?“ fragt der Historiker Bernhard Jussen gleich zu Beginn seines Buches, um dann auf den folgenden rund 120 Seiten auszuführen, in wieweit wesentliche Grundlagen jener Kultur, die Europa heute ausmacht und sie von anderen kulturellen Räumen unterscheidet, in den fünf Jahrhunderten fränkischer Kultur geschaffen wurden. Zunächst erklärt er fundiert und verständlich die Voraussetzungen, die „die Franken“, ihre Gesellschaft und Kultur ermöglichten und beförderten, etwa die

Siegelring mit dem Bildnis Childerichs und Aufschrift CHILDIRICI REGIS („[Besitz] des Königs Childerich“).

Siegelring mit dem Bildnis Childerichs und Aufschrift CHILDIRICI REGIS („[Besitz] des Königs Childerich“).

Randlage Galliens innerhalb des Römischen Reiches. Seit dem 3. Jahrhundert waren in dieses Gebiet fränkische Bauern und Krieger eingewandert. Anders als die Goten oder Vandalen kamen sie jedoch nicht als Eroberer, sondern als Siedler, die sich unter die autochthone romanische Bevölkerung mischten. Ihre Krieger waren als Experten im römischen Heer
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Judenfeindschaft

Eine Leseprobe aus unserem Buch: Heiko Heinisch; Nina Scholz, Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?, Wien, Passagen Verlag 2012. Mit freundlicher Genehmigung des Passagen Verlags: Das Kapitel “Judenfeindschaft”

Der Begriff Antisemitismus, geprägt im 19. Jahrhundert, hat sich mittlerweile im allgemeinen Sprachgebrauch für alle Formen der Judenfeindschaft durchgesetzt, wobei die unterschiedliche Genese in verschiedenen Regionen und Kulturen außer Acht bleibt. Zum besseren Verständnis der Unterschiede und Gemeinsamkeiten jedoch scheint für unser Thema ein Blick auf die historische Entwicklung der Judenfeindschaft in Islam und Christentum hilfreich.

Der europäische Antisemitismus hat seine Wurzeln im christlichen Antijudaismus und reicht in die ersten Jahrhunderte des Christentums zurück. Seit der Abspaltung der frühen Christen vom Judentum war das Weiterbestehen der jüdischen Religion die gelebte Infragestellung christlicher Heilsvorstellung, denn die Juden warteten weiterhin auf jenen Messias, den die Christen mit Jesus bereits gekommen sahen. Die Existenz

"Ecclesia und Synagoge", 13. Jh., Darstellungen der Siegreiche Kirche und der besiegten Synagoge mit gebrochenem Stab und verbundenen Augen vom Portal des Straßburger Münsters

“Ecclesia und Synagoge”, 13. Jh., Darstellungen der Siegreiche Kirche und der besiegten Synagoge mit gebrochenem Stab und verbundenen Augen vom Portal des Straßburger Münsters

des Judentums traf die christliche Identität in ihrem Kern. Doch die Juden waren, obgleich als verstockt und verdammt angesehen, auch, wie Ernst Gombrich einmal feststellte, integraler Teil der christlichen Erlösungsgeschichte. Sie waren „Gottes erste Liebe“ (Friedrich Heer), das Volk, mit dem Gott den ersten Bund geschlossen hatte, mit ihnen teilte man das Alte Testament.[1] In dieser theologischen Verflechtung, die Herausforderung und ständige Provokation zugleich war, liegt die Ursache dafür, dass Juden im christlichen Diskurs von Beginn an Gegenstand der Auseinandersetzung und dominantes Feindbild waren und das Christentum eine solche Fülle an judenfeindlichen Schriften hervorbrachte. Zentraler Punkt war hierbei der schon für das zweite christliche Jahrhundert belegte Vorwurf des Gottesmordes:

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Schule ohne Rassismus?

In einem Artikel in der Welt kritisierte Alan Posener unlängst das aktuelle Themenheft „Rassismus erkennen & bekämpfen“ des Netzwerks Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Der Geschäftsführer des Netzwerks, Eberhard Seidel, reagierte auf diese Kritik mit einem längeren Kommentar. Als ich ihn darauf hinwies, dass seine Ausführungen an der Kritik Poseners vorbeigehen, bot er mir an, mir dieses Themenheft (und einige weitere) zuzusenden, damit ich die inkriminierten Stellen im Zusammenhang lesen und mir selbst ein Bild machen könne. Das habe ich getan. Weiterlesen

Das antiamerikanische Ressentiment

Neben Israel existiert nur ein weiterer Staat, bei dem Regierungspolitik und Bevölkerung umstandslos in eins gesetzt werden: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Wie sich in den aktuellen Debatten um die Abhörprogramme der NSA neuerlich zeigt, kippt die durchaus berechtigte Kritik an der US-Außenpolitik oder den US-Geheimdiensten immer wieder schnell in ein Vorurteil gegen DIE Amerikaner im allgemeinen um. So schreibt etwa Jakob Augstein auf S.P.O.N.: „Die Amerikaner überwachen rund 500 Millionen deutsche Datenverbindungen im Monat, sie behandeln uns wie einen Feind.“[1] Dass Die Amerikaner unsere Feinde sind – mit dieser Sicht steht Jakob Augstein nicht alleine, dieses Ressentiment hat eine große einende Kraft, die Menschen von links bis rechts zusammenführt. Wirft man einen Blick in die einschlägigen Foren, geht es kaum noch um NSA und PRISM, sondern um die „Amis“, die wahlweise als „bösartig“, „barbarisch“, „dekadent“, „oberflächlich“ oder „kulturlos“  und „dumm“ beschrieben werden – meist alles zugleich. Das berüchtigte Zitat von Georges Clemenceau „Amerika, das ist die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne den Umweg über die Kultur“ wird allenthalben gerne und mit genussvoller Süffisanz zitiert. Weiterlesen

Der Begriff Islamophobie

Eine Leseprobe aus unserem Buch: Heiko Heinisch; Nina Scholz, Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?, Wien, Passagen Verlag 2012. Mit freundlicher Genehmigung des Passagen Verlags: Das Kapitel „Der Begriff Islamophobie“.

Der Terminus Islamophobie ist eine Wortneuschöpfung der angelsächsischen Soziologie der 1990er Jahre. Der Begriff operiert mit einer aus der Psychologie stammenden Definition irrationaler Angstzustände: Als Phobie oder phobische Störung wird eine krankhafte, unbegründete und anhaltende Angst vor Situationen, Gegenständen, Tätigkeiten, Tieren oder Personen bezeichnet. Der erste Teil der Wortverbindung benennt den jeweiligen Auslöser dieser Angst, der in Verbindung mit dem Wort Phobie ein Krankheitsbild bezeichnet – zum Beispiel Arachnophobie (griechisch Arachno=Spinne), die Angst vor Spinnen oder Klaustrophobie (lateinisch claustrum=Käfig), die Angst vor engen Räumen. Der Auslöser einer Phobie ist demnach wertfrei; etwas, das für sich genommen nicht bedrohlich ist, aber bei der betroffenen Person Angst bis hin zu Panikattacken auslöst und deshalb in der Psychologie als Krankheitsbild beschrieben wird. Die Begriffsverbindung Islamophobie würde demgemäß eine krankhafte, weil unbegründete, Angst vor dem Islam bezeichnen. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass Religionen, Weltanschauungen, Ansichten, wissenschaftliche Theorien, kurz, jegliche Denk- und Vorstellungskomplexe nicht wertfrei sind. Sie rufen naturgemäß entweder Anerkennung/Zustimmung oder Kritik/Ablehnung hervor und sind somit von vornherein Auslöser von Diskussion und Wertung. Wir sprechen zu Recht nicht von Christentumsphobie, wenn Menschen die christliche Lehre und Kirchenpolitik kritisieren oder gar bekämpfen. Die Ablehnung der Evolutionstheorie, die mit dem Versuch einhergeht, Darwins Lehre aus dem Schulunterricht zu verbannen, wird nicht mit dem Begriff Evolutionsphobie beschrieben, ebenso wenig wird Kritik an oder Angst vor dem Kommunismus oder Kapitalismus als Phobie bezeichnet, und sei sie noch so emotional vorgetragen. Weiterlesen