Bald müssen wir nicht mehr sterben

Der „wichtigste gesundheitspolitische Kongress der EU“, das European Health Forum Gastein (EHFG), fand dieses Jahres vom 3. bis 6. Oktober unter dem Motto „Die Krise als Chance. Gesundheit in Zeiten der Sparpolitik“ statt. Am 5. Oktober überraschte das EHFG mit einer Pressemeldung, die prompt von diversen österreichischen Medien übernommen wurde. Darin heißt es, sogenannte Lebensstil-Erkrankungen (darunter fallen alle nicht übertragbaren Krankheiten wie etwa Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen…) machten in den 53 Ländern der WHO-Region Europa bereits jetzt „77 Prozent der Krankheitslast aus und sind Ursache für 86 Prozent aller Todesfälle.“

Daraus folgt, dass lediglich 14 Prozent der Menschen sterben, weil Menschen gemeinhin sterben – die restlichen 86 Prozent sind selbst dran schuld, ihr Tod wäre vermeidbar, würden sie nur ihren Lebensstil ändern, nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, auf Zucker und Fett verzichten und ausreichend Sport treiben. Dazu müsse man sie, so das EHFG, notfalls mittels fiskalischer Maßnahmen zwingen – ein ungesunder Lebensstil müsse teurer werden als ein gesunder. Die schlechte Nachricht: Noch immer sterben 100 Prozent aller Menschen. Aber dank EHFG wissen wir jetzt, dass das nicht so sein muss.

Das EHFG reiht sich damit in einen Zeitgeist ein, der Krankheit und Tod nicht mehr als persönliche Schicksalsschläge begreift. Menschen werden nach dieser Auffassung nicht einfach alt und auf diesem Weg womöglich irgendwann krank und sterben (die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt in Deutschland 77 Jahre für Männer und 82 für Frauen, in Österreich liegt sie um ca. ein Jahr höher); Krankheit und Tod werden nicht länger als fester Bestandteil des Lebens an sich wahrgenommen, sondern vielmehr als Konsequenz aus einem individuell falsch geführten Leben. Diese Sicht wäre vielleicht gerade noch nachvollziehbar, wenn die durchschnittliche Lebenserwartung sinken würde. Sie steigt jedoch kontinuierlich seit Jahrzehnten (siehe hier).

Diese Individualisierung von Krankheit und Tod, ursprünglich eine kollektive Erfahrungen des Menschen, ist in ihrer Tendenz menschenverachtend; es ist eine „wer nicht hört, muss fühlen“-Mentalität, denn anders als dem vom Schicksal geplagten steht dem selbstverschuldet Kranken kein Mitleid zu. Er oder sie hat sich seine Situation (ein Herzinfarkt, Krebs…) nach dieser Sicht selbst eingebrockt. Hinzu kommt ein Paternalismus, der mehr Angst machen sollte als jedes Gramm Fett in der Butter: Da der Bürger offensichtlich nicht in der Lage sei, selbst für sein gesundes Leben zu sorgen, da er das richtige und womöglich ewige Leben so konsequent verweigere, müsse er dazu gezwungen werden. Zunächst durch hohe Steuern auf alles, was ungesund ist. Aber das genügt dem EHFG nicht: „Steuern auf ungesunde Speisen und Getränke allein“ reichen nicht, heißt es im Pressetext. Zwar wird nicht erörtert, welche weiterführenden Maßnahmen Väterchen Staat ergreifen könnte, aber andere als Verbote sind kaum denkbar.

Die Antwort auf diesen Paternalismus gab der Schweizer Politiker und Verfassungstheoretiker Benjamin Constant bereits 1819: „Wie rührend auch eine so zarte Aufmerksamkeit ist, wir wollen die Regierung bitten, innerhalb ihrer Grenzen zu bleiben. Sie möge sich darauf beschränken, gerecht zu sein. Für unser Glück werden wir selber sorgen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.