Die Goldene Regel

In öffentlichen Diskussionen, vor allem wenn es um die sogenannten interreligiösen und interkulturellen Dialoge geht, wird immer wieder die Goldene Regel bemüht, die, so der Tenor, als ethische Grundlage aller Religionen und Kulturen diene – das Weltethos in einen Satz gegossen. Selten wird erwähnt, dass es diese berühmte Regel in zwei unterschiedlichen Formulierungen gibt, einer „negativen“ und einer „positiven“; wird es doch erwähnt, wird so getan, als wäre die Aussage beider identisch.

Zwischen „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu“ (negativ) und „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“ (positiv) liegen jedoch Welten, beide Varianten definieren unterschiedliche Ethiken. In ihrer negativen Formulierung ist die Goldene Regel das ethische Gebot zu persönlicher Freiheit. Sie beschreibt das Recht der und des Einzelnen, in Ruhe gelassen zu werden, nicht behelligt und nicht geschädigt zu werden; beziehungsweise die Verpflichtung, dieses Recht aller anderen zu achten, sie nicht zu behelligen und nicht zu schädigen. Die positive Formulierung hingegen, wie sie auch in der Bergpredigt vorkommt (Mt 7,12), gewährt genau das nicht. Sie beschreibt vielmehr die Verpflichtung, den anderen etwas zu tun. Auch wenn viele an dieser Stelle einwenden werden, dass den anderen ja Gutes, eben das, was man selbst für sich wünscht, getan werden soll, so heißt das letztlich nichts anderes, als das der/die Handelnde, also die Person, die sich durch die Regel verpflichtet fühlt, anderen das tut, was sie selbst für gut und richtig hält und nicht das, was diese anderen für gut und richtig halten. Die Goldene Regel in ihrer positiven Form kann als Aufforderung zur Zwangsbeglückung gelesen werden, die Ideologen (ob politisch oder religiös) dem Rest der Welt angedeihen lassen wollen, es ist mithin jenes Gute, von dem Thoreau sagte: „Wenn ich sicher wüsste, dass jemand in mein Haus käme, mit der festen Absicht, mir Gutes zu tun, würde ich um mein Leben laufen.“ So will der Religiöse, der das eigene Seelenheil für das Wichtigste hält, das ihm gegeben werden kann, mir womöglich Gutes tun, indem er versucht, mir ebenfalls zum Seelenheil zu verhelfen, während der Atheist möglicherweise versucht, dem Rest der Menschheit Gutes zu tun, indem er sie vom Glauben „erlöst“. Mit der positiv formulierten Goldenen Regel ist jedem Missionseifer Tür und Tor geöffnet. Wer immer zu wissen glaubt, was für alle gut ist, kann sich bei seinem Tun auf sie berufen.

Nur in ihrer negativen Formulierung begründet die Goldene Regel einen moralischen Imperativ, der Würde und Freiheit des einzelnen Menschen zum Ziel hat, denn menschliche Würde und persönliche Freiheit manifestieren sich zu allererst in dem Recht, in Ruhe gelassen zu werden.