Vorratsdatenspeicherung

Wie bereits im Artikel über die Verbotsgesellschaft dargelegt, haben sich westliche Regierungen einem neuen Paternalismus verschrieben. Sie fühlen sich ebenso für die Gesundheit wie für das gesunde Verhalten ihrer Bürger verantwortlich und Sicherheit in jeder Lebenslage mutiert zum höchsten aller Werte. Das gilt insbesondere für die Politik der inneren Sicherheit, den Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität. Dieser scheint nur erfolgreich geführt werden zu können, wenn die Bürger in die Position zu überwachender Schutzbefohlener versetzt werden. So, wie uns im Gesundheitsbereich suggeriert wird, wir würden nicht mehr krank werden (vermutlich nicht einmal mehr sterben), wenn wir uns nur endlich gesund ernährten, Sport trieben und auf Tabak und Alkohol verzichteten, wobei uns die Regierung tatkräftig mit entsprechenden Verboten und Geboten unterstützen wird, so wird uns im Bereich der inneren Sicherheit suggeriert, alle Gefahren könnten von uns abgewendet werden, wenn der Staat, Polizei und Geheimdienste nur genügend Ermittlungs- und Überwachungsmöglichkeiten bekämen.

Bislang konnte jedoch nicht schlüssig bewiesen werden, dass Terrorismus und Kriminalität sich durch vermehrte Überwachung abschaffen lassen. Neue „Sicherheitsgesetze“, oft genug als Reaktion auf Anschläge beschlossen, hätten selbige auch dann nicht verhindert, wenn sie bereits früher in Kraft gewesen wären. Und selbst wenn, stellte sich die Frage, welchen Preis wir für eine vermeintliche Sicherheit bei einer schwer abzuschätzenden Gefahrenlage zu zahlen bereit sind? Neue „Ermittlungsmethoden“ wie die Vorratsdatenspeicherung schaffen Teile der Menschenrechte und wesentliche Grundsätze des Rechtsstaats stillschweigend ab. Der Schutz der Privatsphäre, der durch die Artikel 10 (Post- und Fernmeldegeheimnis) und 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung) des deutschen Grundgesetzes (Art. 8 EMRK, Art. 9, 10 österr. StGG) gewährleistet wird, gehört zu jenen grundlegenden Menschenrechten, die ein Leben in Freiheit und ohne Angst vor willkürlichen staatlichen Eingriffen überhaupt erst ermöglichen. Nicht zuletzt aus diesem Grund gehört das Hausrecht, das den Schutz der privaten Umgebung garantiert, zu einem der ältesten festgeschriebenen Menschenrechte. Es ist bereits 1776 in der Virginia Declaration of Rights (Art. 10), der ersten Erklärung der Menschenrechte überhaupt, verbrieft worden. Es wird von den amerikanischen Verfassungsvätern aber bereits aus jenen Rechten abgeleitet, die den englischen Bürgern 1679 in der Habeas Corpus Akte gewährt wurden. Durch die Vorratsdatenspeicherung werden die genannten Rechte im Namen einer vermeintlichen Sicherheit außer Kraft gesetzt, ohne dass hierfür ein Grundrecht auf Sicherheit ins Feld geführt werden könnte. Dieser Auffassung schloss sich auch das deutsche Verfassungsgericht an und lehnte die Vorratsdatenspeicherung in ihrer derzeitigen Form mit Blick auf Art. 10 GG als verfassungswidrig ab. Dessen ungeachtet wurde sie in Österreich am 1. April 2012 (leider kein Aprilscherz) in Kraft gesetzt.

Der Eingriff in den Rechtsstaat ist auch auf anderer Ebene schwerwiegend: War früher ein Verbrechen nötig, damit die Polizei ermitteln konnte, um schließlich erste Tatverdächtige auszumachen, gegen die dann weitere Beweise gesammelt wurden (etwa durch Hausdurchsuchungen o.ä.), wird durch die Vorratsdatenspeicherung zuerst, also bevor ein Verbrechen geschehen ist, ermittelt – und zwar präventiv gegen alle Bürger. Das führt zwangsläufig zu einer Umkehrung der Beweislast. Diese liegt in einem Rechtsstaat beim Ankläger. Der Staatsanwalt muss dem/der Angeklagten die Tat stichhaltig nachweisen, nicht diese/r die eigene Unschuld beweisen. Die Vorratsdatenspeicherung erzeugt nun mitunter vermeintliche Beweise (die Anwesenheit zu einer bestimmten Zeit in der Nähe eines bestimmten Ortes, gesteigertes Interesse an bestimmten Themen im Internet…), die wiederum „Verdächtige“ produzieren. Diese sind nun gezwungen, bereits vor einer strafbaren Handlung gesammelte Daten-„Beweise“ oder solche, die die vermeintliche Planung einer Tat „belegen“ oder eine Gefährdung anderer nahelegen, zu widerlegen. Nur mal angenommen, jemand interessiert sich ohne Hintergedanken für Sprengstoffe (weil er/sie chemie-begeistert ist) und macht dementsprechende Suchanfragen im Internet – es wird vermutlich nicht lange dauern, bis er/sie Sicherheitsbehörden erklären muss, warum er/sie sich für dieses Thema interessiert. Er/sie wird gezwungen einen vermeintlichen Beweis für eine Tatplanung zu widerlegen.

Die Vorratsdatenspeicherung behandelt alle Bürger als potentielle Verdächtige, die es zu überwachen gilt. Geradezu dreist ist die so logisch klingende Behauptung, „wer nichts zu verbergen hat, braucht auch nichts zu fürchten“. Richtig ist vielmehr, dass gegen Unschuldige nicht präventiv ermittelt werden sollte oder wie es auf der Website von Daten-speicherung.de prägnant ausgedrückt wird: „Wer ‚nichts zu verbergen‘ hat, braucht auch nicht überwacht zu werden.“ Eine Regierung, die eine Maßnahme wie die Vorratsdatenspeicherung beschließt, betrachtet jene Bürger, für deren Sicherheit sie vorgeblich verantwortlich ist als Sicherheitsrisiko. Da Sicherheit ihre vordringlichste Aufgabe zu sein scheint, hat sie kein Problem damit, die Freiheit der Bürger einzuschränken, denn Freiheit und Sicherheit verhalten sich umgekehrt proportional zueinander: Mehr Freiheit bedeutet stets weniger Sicherheit und mehr Sicherheit weniger Freiheit. Totale Sicherheit ist demnach nur in einem totalitären Überwachungsstaat zu gewährleisten. Mit den gleichen Argumenten, mit denen die Vorratsdatenspeicherung begründet wurde, ließe sich schließlich auch die flächendeckende Video- und Audioüberwachung bis hinein in die privaten Wohnungen und Häuser rechtfertigen. In diesem aus George Orwells Roman 1984 entlehnten Szenario ließe sich jedes Verbrechen, wenn nicht verhindern, so doch im Nachhinein, nach Auswerten aller Dateien, klären – aber nicht einmal das ist sicher. Man darf gespannt sein, wann die ersten „Verbrecher“ wie im Film Minority Report bereits vor dem Begehen einer strafwürdigen Handlung verhaftet werden.